Das plötzliche Umschwenken der Sparapostel
Eine Analyse von Philipp Löpfe.
23.04.2013
Berlin und Brüssel forderten über Jahre die verschuldeten Südeuropäer auf, den Gürtel enger zu schnallen. Damit ist nun Schluss. Ausgelöst hat den spektakulären Wechsel ein US-Student.
Der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, gilt als liberaler Wirtschaftspolitiker, der mit harten Sparauflagen die europäischen Schuldenberge abtragen will. Am Montag erklärte er zur Überraschung vieler Beobachter: «Natürlich ist diese Sparpolitik grundsätzlich richtig, aber sie hat ihre Grenzen erreicht. Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik muss nicht nur theoretisch stimmen. Sie braucht auch ein Minimum an politischer und sozialer Unterstützung.»
Olli Rehn, der oberste Wirtschaftsvertreter in der EU-Kommission, gilt als harter Hund und als Chefideologe des Austeritätskurses, den Brüssel seit der Griechenland-Krise verfolgt. Auch er ist in den letzten Tagen gewaltig zurückgerudert und hat den beiden Defizitsündern Griechenland und Portugal ein Jahr Verlängerung zur Erreichung der Sparziele eingeräumt.
Man stützte sich auf die 90-Prozent-Regel
Lange war die Wirtschaftspolitik auf die harte Sparlinie eingeschworen. Jetzt wird sie plötzlich aufgeweicht. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch eine Studie an einer Provinzuniversität im Bundesstaat Massachusetts. Dort hatte ein Student namens Thomas Herndon die Zahlen der beiden Ökonomiestars Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff nachgerechnet und dabei festgestellt, dass den beiden ein peinlicher Rechenfehler unterlaufen ist. Das könnte nun grosse Folgen haben: Reinhart/Rogoff haben nämlich damit die sogenannte 90-Prozent-Regel begründet, die besagt, dass das Wirtschaftswachstum einer Nation rapide absackt, wenn die Staatsverschuldung über 90 Prozent des Bruttoinlandprodukts steigt.
Diese Regel wiederum ist von den Sparaposteln – gerade beispielsweise von Olli Rehn – immer wieder als Rechtfertigung der Austeritätspolitik verwendet worden. Die beiden Starökonomen haben inzwischen ihren Rechenfehler eingestanden. Damit ist auch die 90-Prozent-Regel Makulatur geworden. Das bedeutet: Der vermeintlich wissenschaftliche Sockel, auf dem die Sparpolitik gestanden hat, ist eingestürzt. Fairerweise muss hier kurz erwähnt werden, dass die 90-Prozent-Regel unter Ökonomen stets umstritten war. Keynesianer wie Paul Krugman oder Joseph Stiglitz haben sie immer als Mumpitz abgetan. Es ist daher weniger die Aufdeckung des Rechenfehlers als der Zeitpunkt, der die Trendwende zur Folge hat.
Das neue Mitgefühl Schäubles
Inzwischen ist klar: Die Sparpolitik der EU hat versagt – und die politischen Folgen lassen sich nicht mehr länger kaschieren. In den Defizitländern hat diese Wirtschaftspolitik nicht zur Verbesserung der Lage beigetragen. Sie hat im Gegenteil dazu geführt, dass sich die Verelendungsspirale immer schneller dreht: Die Arbeitslosigkeit und auch die Staatsschulden sind gestiegen. Von einem Aufschwung kann nicht die Rede sein. In den letzten fünf Quartalen ist die europäische Wirtschaft geschrumpft, und auch die Aussichten für die Zukunft sind düster. Ob Internationaler Währungsfond, OECD, Europäische Zentralbank – alle haben ihre Wachstumsprognosen erneut nach unten korrigiert.
Es sind längst nicht mehr bloss die Defizitsünder, die im Schlamassel stecken. Obwohl Staatsausgaben massiv gekürzt und die Steuern erhöht worden sind, werden voraussichtlich mindestens sechs Eurolandstaaten die 3-Prozent-Grenze für Neuverschuldung überschreiten. Dazu gehören auch Frankreich und die Niederlande. Deshalb hat Berlin ein grosses Problem. Einen Kleinstaat wie Zypern kann man in die Knie zwingen, Frankreich und Holland nicht. Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble werden Konzessionen machen müssen – und sie sind offenbar auch teilweise dazu bereit. In der Bundestagsdebatte hat Schäuble gar so etwas wie Mitgefühl für die Menschen in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien gezeigt: «Sie leben in sehr harten Zeiten», erklärte er.
Dauert die Krise noch ein Jahrzehnt?
In Deutschland selbst ist ein solches Verständnis jedoch politisch sehr heikel. Die Anti-Europa-Partei Alternative für Deutschland ist auf dem Vormarsch, und die Hardliner sind alles andere als besänftigt. Die Krise werde sich möglicherweise noch ein ganzes Jahrzehnt hinziehen, warnte beispielsweise kürzlich Jens Weidmann, der Präsident der deutschen Bundesbank, im «Wall Street Journal». Eine Trendwende der deutschen Wirtschaftspolitik hin zu höheren Löhnen und mehr Inflation hält er für zwecklos. «Unsere Analysen zeigen, dass mehr Nachfrage in Deutschland kaum eine Wirkung in den südeuropäischen Volkswirtschaften hätte», sagt er.