Anschlag auf Amerikas Selbstbewusstsein

 

Der Patriots' Day ist der Tag, an dem Amerika seiner Stärke und Widerstandskraft gedenkt. Wer an diesem Tag in Boston zwei Bomben zündet, der will sich der Symbolik des Datums bemächtigen, der Symbolik des Ortes und der Symbolik dieses Sportfests. Und doch hat das ganze Land bemerkenswert unhysterisch auf den Anschlag reagiert.

 

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

 

In dem Städtchen Lexington, keine halbe Stunde nordwestlich von Boston gelegen, weht der amerikanische Geist der Freiheit besonders heftig. Siedlermilizen feuerten dort in den frühen Morgenstunden des 19. April 1775 auf britische Kolonialtruppen und lösten damit eine Folge von Scharmützeln und Schlachten aus, die als Battles of Lexington and Concord in die Geschichte eingegangen sind. Bis zum Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs mussten zwar noch acht Jahre vergehen, aber schon 1776 hatten die freiheitshungrigen Siedler ihre Unabhängigkeitserklärung geschrieben und ein Jahr später ihre Konföderation gebildet. Amerika war frei.

 

Für das amerikanische Heldenepos wurde die Schlacht vom Dichter Ralph Waldo Emerson in Zeilen gegossen - voller Pathos und Heimatliebe. Bill Clinton, der frühere Präsident, erklärte die Concord Hymn zu seinem Lieblingsgedicht. Und bis heute wird in aller Welt die eine Zeile zitiert, wenn einer düster von großem, heraufziehendem Unheil zu berichten weiß: "Hier standen einst bedrängt die Bauern; und feuerten den Schuss, der überall in der Welt gehört wurde."

 

The shot heard round the world wurde klar und deutlich vernommen, als Erzherzog Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo ermordet wurde. Vier Jahre lang hallte sein Echo durch Europa. Und nun, so viele Zeitrechnungen später, ist es der Knall von Boston, der nicht nur in den USA diese raunende Befürchtung wach werden lässt, dass alles wieder von vorne beginnen könne: der Terror, die Angst, die Unsicherheit.

 

Der Bostoner Marathon wird auch Patriots' Run genannt, weil die Läufer seit mehr als 100 Jahren stets am Patriots' Day auf die Strecke gehen - jenem Tag eben, an dem die Bostoner der Schlachten von Lexington und Concorde gedenken. Und insofern ist es nicht abwegig zu unterstellen, dass sich der oder die Täter der Symbolik des Tages, der Symbolik des Ortes und der Symbolik des Sportfestes bemächtigen wollten. Wer in Boston am Patriots' Day zwei Bomben zündet, der trifft Amerika emotional besonders hart. Das ist der Tag, an dem die Nation ihrer Stärke und Widerstandskraft gedenkt - nicht der Tag, an dem Schwäche und Duckmäusertum gefeiert werden.

 

Trügerische Ruhe

 

Diese Explosionen sollten überall auf der Welt gehört werden, sie sollten ihre Wirkung im Kopf entfalten. Präsident Barack Obama sagte zum Patriots' Day: "Das ist ein Tag, an dem der freie und leidenschaftlich unabhängige Geist gefeiert wird." Nun wurde Amerika auf einen Schlag zurückgeworfen in die Zeit des Traumas, der Unfreiheit und der Furcht, die Obama gerade zu überwinden hoffte.

 

Elfeinhalb Jahre lang blieben die USA von Terroranschlägen verschont. Sicher, es gab viele Versuche, und nicht wenige in diesem gewaltgewohnten Land zählen Amokläufe wie den an der Schule von Newtown zur Kategorie des Terrors. Aber selbst der Amoklauf eines radikalisierten Soldaten in Texas mit 13 Toten wurde nie offiziell als Terrorakt qualifiziert. Wahr ist deshalb: Seit dem 11. September 2001 konnte jeder gezielte terroristische Anschlag, jedes in fester politischer Absicht geplante Attentat in den USA verhindert werden. Boston scheint nun diese Phase trügerischer Ruhe zu beenden.

 

Wieder zeigt sich, wie simpel am Ende der Terror wirkt. Die gleichen Mechanismen, die vor elfeinhalb Jahren den Lauf der Geschichte verändert haben, funktionieren noch immer: der Anschlag auf die ahnungslose Menge, die lähmende Wirkung unzähliger Bilder, der symbolische Ort, die kollektive Furcht. Auch wenn Boston natürlich bei Weitem nicht die Dimension des Jahrhundert-Attentats von New York und Washington erreicht - Terror wirkt immer gleich. Er lebt von der Überraschung, der Willkür und seiner Unsichtbarkeit.

 

Glücklicherweise stimmt aber auch dies: Weil Terror vor allem im Kopf seine Wirkung entfaltet, lässt sich vieles von seiner zerstörerischen Kraft durch Ruhe und Überlegtheit mildern. Angesichts der Monströsität von 9/11 war diese innere Distanz nicht möglich. Nach Boston muss sie möglich sein. Präsident Barack Obama wartete lange, bis er das Wort Terrorakt in den Mund nahm. Seine Besonnenheit ist hilfreich und trägt zur Deeskalation bei.

 

Hysterie ist das Triumphgeheul des Terrors. Amerika hat bemerkenswert unhysterisch auf die Bomben von Boston reagiert. Das zeugt von einer neuen Reife - aber auch von einer unendlichen Müdigkeit. Die Amerikaner wollen die Terror-Dekade hinter sich lassen. Aber der Terror will nicht weichen. Noch nicht. Irgendwann wird man seine Sinnlosigkeit verstanden haben.