Soziale Frage in den
USA Im Land der Ungleichen
26.01.2012
Ein Kommentar von Reymer Klüver
Bei der Präsidentenwahl
2012 tritt ein anderer Barack Obama an als vor vier
Jahren: Gefragt ist nicht mehr
der Versöhner, sondern der Klassenkämpfer,
der für soziale
Gerechtigkeit eintritt. Das ist eigentlich unamerikanisch, aber trotzdem nötig.
Denn angesichts eines extrem ungerechten
Steuersystems, das schamlos die Reichen bevorzugt, haben viele US-Bürger das Grundvertrauen verloren: dass jeder die Chance habe, sein Glück zu
machen.
Vor vier Jahren
war Barack Obama als Versöhner angetreten. Die Amerikaner hatten ihn gewählt, weil
sie hofften, dass er die Gräben
zuschütten könnte, die sich in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends unübersehbar aufgetan hatten: die tiefe Animosität zwischen den beiden politischen Lagern im Land und die klaffenden Unterschiede zwischen den Profiteuren der Boom-Jahre und dem Rest der Gesellschaft, in der immer mehr
Menschen der Absturz drohte. Inzwischen ist
alles anders.
Die Hoffnung,
die Obama seinerzeit entgegenbrandete,
ist längst
dahin. Deshalb wird sich diesmal
ein anderer Obama zur Wahl stellen. Das hat er in seiner
Ansprache zur Lage der Nation im Kongress unmissverständlich
zu verstehen gegeben. 2012 tritt Obama der Klassenkämpfer an.
Er wirbt für
eine gleichmäßigere Verteilung der Vermögen in den USA - etwas, was für europäische Ohren selbstverständlich klingt, in den USA aber nicht (mehr) selbstverständlich
ist. "Wer mehr als eine
Million Dollar im Jahr verdient", so Obamas Botschaft, die er ins Zentrum seines Wahlkampfs stellen wird, "sollte nicht weniger als
30 Prozent Steuern zahlen."
Das ist
in den USA seit mehr als einem Jahrzehnt
nicht mehr so: Die, die am meisten verdienen, müssen einen niedrigeren
Teil ihres Einkommens abgeben als die Durchschnittsverdiener. Das wird auch
in Amerika als
ungerecht empfunden, wie sämtliche Umfragen
belegen. Obama rückt zwei einfache Fragen
ins Zentrum seines Wahlkampfs: Wie fair soll die amerikanische Gesellschaft sein? Und was muss man
tun, um Ungerechtigkeiten auszugleichen?
Die Frage
nach der Fairness
Die Frage
nach der Fairness gärt seit längerem
in der Gesellschaft. Die Proteste der Occupy-Wall-Street-Bewegung haben sie nur der
breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt.
Seit Jahren wachsen schon die Schlangen vor den Suppenküchen in Amerikas Metropolen, stehen in den Vorstädten die Häuser leer, weil ihre einstigen
Besitzer die Kreditzinsen nicht mehr zahlen
konnten, warten Hunderte, manchmal Tausende vor Schulturnhallen,
weil dort ein Heer Freiwilliger
medizinische Betreuung anbietet. Gleichzeitig sind die Einkommen
des obersten Hundertstels der Gesellschaft innerhalb von drei Jahrzehnten um 275 Prozent in die
Höhe geschossen. Die US-Gesellschaft ist
längst nicht mehr fair: Wer nichts hat, der hat keine Chance.
Selbst die Tea-Party-Proteste hatten viel mit
dem Frust über etwas zu
tun, was auch als mangelnde
Fairness empfunden wurde: Dass der Staat
anderen mit Geld aus der Bredouille
hilft, ob Sozialhilfe-Empfängern
oder per Bailout Wall-Street-Managern,
während Normalverdienern niemand beisteht. Die Fragen rühren an
die Grundfesten des Landes.
Denn stets waren die Amerikaner von einem tiefsitzenden Optimismus geleitet, von dem Glauben, dass in ihrem Land jeder die Chance habe, sein Glück
zu machen. Dieses Grundvertrauen ist
erschüttert.
Wohl auch deshalb
gibt es nun eine merkwürdige Sehnsucht nach einem Zustand, in dem Verhältnisse noch wohl geordnet
schienen. Diesen nostalgischen Reflex bedienen die
republikanischen Präsidentschaftskandidaten,
wenn sie die (völlig illusorische) Rückkehr zum Goldstandard
in Aussicht stellen. Aber auch Obama feierte in seiner Rede vor dem
Kongress die Nachkriegszeit
- in der Amerikaner
"die stärkste Wirtschaft
und Mittelschicht schufen, die die Welt je gesehen
hat". Das ist
nicht nur Verklärung. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten
Weltkrieg waren die Produktionsgewinne der US-Wirtschaft und die Einkommenszuwächse
halbwegs gleichmäßig verteilt. Erst Ende der siebziger
Jahre begann sich das zu
ändern. Seither geht die Einkommensschere in den
USA auseinander, und dies besonders
rasant in den neunziger Jahren.
Die Amerikaner
wollen Taten sehen
Auch in Europa ist dies zu
beobachten, in Deutschland zumal.
Doch nirgendwo sind die Unterschiede
so groß geworden wie in Amerika. Dafür gibt es
viele Ursachen, etwa mangelnde Investitionen ins öffentliche Bildungssystem. Das ließ ein
Heer ungelernter Arbeitskräfte entstehen, die nur für Billigjobs
in Frage kommen. Doch entscheidend dürfte ein anderer
Faktor sein: Die USA haben unter den Industrienationen eines der ungerechtesten Steuersysteme, das schamlos die ohnehin Reichen bevorzugt.
Wer in Amerika vom Ertrag seiner
Investitionen lebt, muss nur 15 Prozent Steuern zahlen. Das gilt selbst in Amerika, wo
Sozialneid kaum eine Rolle spielt,
als unangemessen. Sonst hätte der
Multi-Millionär Mitt Romney, der
Obama ablösen will, sich nicht so lange mit der (in den USA üblichen) Veröffentlichung seiner Steuererklärung geziert.
Dennoch ist
es längst nicht ausgemacht, dass Obamas neue
Botschaft verfängt. Die Amerikaner wollen Taten sehen. Nach
mehr als
drei Jahren im Amt fragen sie,
was ihr Präsident bisher erreicht hat. Und da sehen sie in erster
Linie die Rekordarbeitslosigkeit
und die nur schleppende Erholung der Wirtschaft. Und sie fragen, warum
Obama nicht längst mehr gegen die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft getan hat und erst jetzt den Klassenkämpfer in sich entdeckt. Die Antworten muss ihnen der Präsident
erst noch geben. Seine zweite Chance hängt davon ab