Reiskörner, Zinseszinsen
und die ewige Krise
Obwohl regelmässig Entwarnungssignale gesendet werden, herrscht gegenüber der Lage
der Weltwirtschaft grosse Skepsis und nicht wenige Menschen
haben das Gefühl, dass der ganz
grosse Kollaps irgendwann noch kommen muss. Leider könnten sie recht
haben, denn unser Wirtschaftssystem hat einen monumentalen Strickfehler.
Patrik
Etschmayer
Kennen Sie die
Geschichte vom Schachspieler,
der von seinem König als Preis
für einen Sieg um Reis bat, und zwar ein Korn auf dem
ersten Feld, zwei auf dem zweiten,
vier auf dem dritten und dann immer doppelt so viele bis zum
64sten Feld. Der König lachte nur
und wunderte sich, warum der Schachspieler
so wenig wollte, doch der geneigte
Leser weiss es natürlich: Diesen
Wunsch zu erfüllen war unmöglich, denn die Menge an Reis, die auf dem letzten Feld
fällig war, wäre so
monumental gewesen, der König hätte sie
in der ganzen Welt nicht auftreiben können. Hätte er
doch auf dem letzten Feld allein
9'223'372'036'854'775'808 Reiskörner auflegen müssen. Und auch heute wäre
es noch eine
Unmöglichkeit, auf der ganzen Welt 9 Trillionen Reiskörner aufzutreiben (wobei es im
ganzen über 18 Trillionen Körner oder 1,8 Billionen Tonnen Reis bei 10 Körnern pro Gramm wären).
Diese Geschichte demonstriert
zweierlei: Die enorme Macht exponentieller Funktionen und unsere Unfähigkeit, diese intuitiv zu erfassen.
Aber was hat das mit der Wirtschaftskrise zu tun? Das Wort
heisst Zins. Wir sind es
gewohnt, das Geld Zinsen abwirft, Zinssätze bestimmen die Schuldenkrise und Zinsen bestimmen unseren Alltag, meist, ohne dass
wir es bemerken:
Zinsen auf Produktionsgüter
und Infrastruktur machen einen grossen Teil
der Kosten der meisten Waren
aus, wobei die Schätzungen von 20 - 50% reichen.
Zudem sorgen die Zinsen (für all jene, die das immer noch nicht verstanden
haben) für den hauptsächlichen Vermögenstransfer
von unten nach oben, da sich
die echten Zinsgewinne fast
exklusiv in den Konten der obersten 10 oder noch weniger
Prozenten der Reichtsten der Welt sammeln. Wer also glaubt, das die 0.125% auf seinem
Kontokorrent ihn ein klein wenig
für seine Sparsamkeit entschädigen ... nein. Und selbst
wer gut verzinste Anlagen besitzt, zahlt vermutlich wesentlich mehr an verborgenen Zinsen in den täglichen Ausgaben, als er
oder sie je für das angelegte Geld bekommen kann.
Doch das ist nur ein unangenehmes
Detail der Verzinsung. Das andere ist, dass
Zinsen - genau wie sich verdoppelnde
Reiskörner - eine Exponentialfunktion darstellen, sprich, dass durch
die Verzinsung der Zinsen sich das Geld unabhängig von unserer Wirtschaft vermehrt. Obwohl alles - denn wir leben
ja in einer wirklichen Welt - auf der Realwirtschaft basiert, übertreffen die surrealen Wirtschaftszweige der Devisen- und Derivatenmärkte deren Volumen um das vielfache. Es werden Gewinne eingefahren, denen kein realer Wert gegenüber steht und es bestehen Verpflichtungen,
die unmöglich durch Arbeit und Produktion wirklicher Waren bezahlt werden können.
Es
handelt sich hier sozusagen um systemimmanente Blasen die entstehen müssen und dann auch immer
wieder platzen. Vor der letzten
grossen Krise vor 85 Jahren hatten
sich auch schon manche Wirtschaftstheorien
entwickelt, die danach strebten, die Wirtschaft aus ihren Zinsfesseln
zu befreien. «Freigeld» und «Freiland» hiessen die Schlagworte und wer nach dem
«Wunder von Wörgl» sucht, wird auch
fündig.
Trotz der stetig wiederkehrenden Krisen unseres Geldsystems wurden alternative Systeme dieser Art als «Finanzesotherik» und nicht realisierbar abgestempelt, waren Zinsen doch seit
dem Beginn der Geldwirtschaft ein Teil des Systems die offenbar auch ein
Antrieb der gesellschaftlichen Innovation waren:
Gesellschaften, in denen Zinsen - meist aus religiösen Gründen - verboten waren litten an einer allgemeinen Stagnation sowohl was
die Wirtschaft als auch was die gesellschaftliche Entwicklung anging.
Doch die drohende
und vermutlich unvermeidlich
platzende Blase der Finanzwirtschaft, der beinahe Totalabsturz
der Weltwirtschaft, der uns seit
Jahren in Atem hält und die stetig grössere Diskrepanz zwischen immer weniger Habenden und immer mehr Habenichtsen
sollten unterdessen auch in den Köpfen der Politiker als
Hinweise auf ein paar Fehler im
System angekommen sein.
Doch es zeigt sich nirgends
auch nur der Ansatz eines
Umdenkens, eines Zweifels am System bei den Mächtigen, denn so ein Wechsel würde
nicht zuletzt jenen, die sie mit grosszügigen Spenden unterstützen, schaden. Wenn - und wir dürfen auf die Europawahlen gespannt sein - die Stimmbürger immer mehr zu
vor allem rechten Protestparteien überlaufen, darf man sich nicht darüber
wundern. Denn diese sind fast noch die letzten die - wenn auch krude
und mit Argumenten, die meist völlig an der Sache vorbei
gehen - Zweifel am maroden System äussern. Es reicht unterdessen ein völlig verquerer,
meist rassistischer und selbstmitleidiger Dissens, um den
Eindruck des revolutionären
Denkens zu verbreiten. Grausig.
So
wird es vermutlich
wieder dazu kommen, dass das Fantasiegeld, welches die Finanzmärkte aufbläht wie eine Seifenblase
auf Steroiden früher oder später wieder
durch eine Explosion regelrecht vernichtet werden muss, da die Diskrepanz zwischen Realität und Markt einfach zu gross geworden ist. Dies mit «Schuldenschnitten» zu verhindern, ist ja auch
nur der verzweifelte
Versuch, die Blase kontrolliert zu leeren.
Es
ist in diesem Zusammenhang vielleicht dienlich, sich daran zu erinnern,
dass es in der wirklichen Welt fast keine Systeme gibt,
die exponentielles Wachstum
zeigen: lediglich Bakterienkulturen und ungebremste
atomare Kettenreaktionen
fallen ein. Die einen enden in einem Kollaps, sobald die Nahrung aufgebraucht ist, die andere schliesst mit einer
atomaren Explosion (sei es in einer Bombe oder einem defekten
Reaktor) ab. Von dem her durchaus adäquate Sinnbilder für das gegenwärtige System.
Vielleicht wäre es für unsere
politischen und wirtschaftlichen
Führer klug, sich mal mit einem
Schachbrett und einem Sack
Reis hin zu setzen. Aber vermutlich
würden sie dann spätestens, wenn der Reissack
leer ist, eine Option auf
1.8 Billionen Tonnen Reis erwerben, denn wir wissen ja,
dass an den Märkten alles möglich
ist, ganz egal, wie unmöglich
es auch sein
mag.