Schlimmer als ein
Verbrechen
Eric
Gujer
Wenn latenter Antiamerikanismus und die tiefsitzende
deutsche Abneigung gegen Nachrichtendienste gerührt und geschüttelt werden, entsteht ein hochgiftiger
Empörungscocktail. So echauffierte
man sich in Berlin wochenlang
darüber, dass der amerikanische Geheimdienst NSA allmonatlich 500
Millionen Computer- und Telefonverbindungen
aus Deutschland speichere.
Von Totalüberwachung war die Rede,
bis das Orwellsche Schreckgespenst in sich zusammensackte. Es stellte sich heraus, dass
die Deutschen selbst diese Daten den Amerikanern weiterleiten. Auch der Bundesnachrichtendienst
hört in Afghanistan und anderen
Krisengebieten eifrig ab und teilt sein
Wissen gerne mit den Verbündeten. Nun ist die Empörung schlagartig zurückgekehrt mit der Nachricht,
ein Handy von Kanzlerin
Merkel sei überwacht worden. Wieder viel Lärm um fast nichts? Diesmal scheint der Fall ernster zu sein.
Immerhin hat das Kanzleramt
selbst den Verdacht publik gemacht, nachdem sich Merkel persönlich bei Obama beschwert hatte.
Aufdringliche Neugier
Die
Kanzlerin neigt im Gegensatz zu
vielen ihrer Landsleute nicht zu hypermoralischen Betroffenheits-Orgien. Wenn sie sich entschliesst,
in solch einem Fall die Öffentlichkeit zu suchen, hat sie einen triftigen Anhaltspunkt. Treffen die Anschuldigungen zu, muss sich die amerikanische Regierung das Bonmot von
Napoleons Polizeichef Fouché
vorhalten lassen, etwas Schlimmeres als ein Verbrechen
begangen zu haben, nämlich einen Fehler.
Natürlich spionieren sich verbündete Nachrichtendienste in gewissem Rahmen gegenseitig aus. Bei diesem
Sammeleifer geraten auch Regierungsstellen befreundeter Staaten und Industrieunternehmen ins Visier –
gemäss der Devise, wer sich nicht
schützt, ist selber schuld. So halten es alle.
Frankreich, dessen Präsident Hollande wegen der NSA ebenfalls beim Amtskollegen Obama vorstellig geworden ist, steht im
Ruf, in der Wirtschaftsspionage besonders rücksichtslos zu sein. Auch erklärt
das jüngste Pariser Verteidigungsweissbuch in aller Deutlichkeit, wie wichtig Nachrichtendienste in einer multipolaren Welt voller Terroristen, Rebellen und aufstrebender Staaten sind. Die neue Unübersichtlichkeit, in der Nachrichtendienste eine ähnliche Rolle
für die nationale Sicherheit spielen wie früher Panzerdivisionen
und Interkontinentalraketen, rechtfertigt
indes nicht jeden Fehltritt. Auch in der Welt der Schlapphüte ist alles eine
Frage des Augenmasses. Gezielt die Regierungschefin eines engen Partnerlandes
abzuhören, schickt sich nicht. Die politischen Verheerungen sind zudem viel
grösser als der zu erwartende
Nutzen. Demokratische Staaten können Geheimnisse ohnehin nicht lange für
sich behalten. Ein bisschen früher
als die Medien zu wissen, welchen
Schachzug Merkel als Nächstes in der Euro-Krise plant, rechtfertigt keine transatlantische Eiszeit. Das deutsche Kanzleramt ist schliesslich nicht der Kreml.
Die
Auswirkungen des von amerikanischer
Seite nur gewunden und mehr als unzulänglich dementierten Handy-Gerüchts lassen sich bereits
besichtigen. Der EU-Gipfel befasst sich mit den von Berlin und Paris
erhobenen Vorwürfen. Frankreich, sonst gerne selbst der
Dieb, wird dieses Forum nutzen, um laut «Haltet den Dieb» zu rufen. Das Europaparlament
fordert wegen des Verdachts, dass sich die NSA in den Computern des
Finanzdienstleisters Swift breitgemacht
hat, eine Sistierung des Datenaustausches mit Washington. Auch Brasilien und Mexiko sind wegen
der aufdringlichen Neugier des amerikanischen Geheimdienstes ungehalten. Präsident Obama, der einst angetreten war, den Verbündeten ein freundlicheres Gesicht zu zeigen als
sein ungeliebter Vorgänger, hat ein veritables diplomatisches Problem.
Während Präsident Bush die Europäer noch ernst
nahm und mit ihnen hart diskutierte, legt Obama allerdings beim Umgang mit
dem angerichteten Flurschaden dieselbe Indifferenz an den Tag, die zur Signatur seiner gesamten Aussenpolitik geworden ist.
Emotionen und Interessen
Die
Europäer werden trotz ihrem ostentativen
Ärger diesen klug zu dosieren
verstehen. Kurzfristige Emotionen sind das eine, langfristige Interessen das andere. Auch nach dem
Ende des Kalten Kriegs benötigen die transatlantischen Partner einander.
Wegen einer Räubergeschichte die Verhandlungen
über ein Freihandelsabkommen auszusetzen, wie dies der notorische
Dampfplauderer und SPD-Vorsitzende
Gabriel fordert, wäre mehr als töricht.
Auch wissen die Europäer nur zu
gut, dass sie auf den von Amerikas Streitkräften und den Nachrichtendiensten aufgespannten
Schutzschirm angewiesen sind. Ohne die Drohnen und Satelliten der USA wäre etwa
die französische Invasion in Mali nicht
so glatt verlaufen.
Washington muss sich allerdings
auch daran erinnern, dass schier unbegrenzte Rechnerkapazitäten und moderne Spionage-Software politische Klugheit und Fingerspitzengefühl nicht ersetzen können.