And the Oscar goes to ... Europe
Susanne Ostwald
Schon 2012 triumphierte die Alte Welt an der Oscar-Verleihung, als «The Artist», der schwarz-weisse Stummfilm eines Franzosen, fünf der begehrtesten Trophäen der Filmwelt gewann und damit bewies, dass traditionelle, «kleine» Filmkunst sich gegen technikverliebte Blockbuster mit exorbitanten Budgets durchzusetzen vermag. Europa hatte Hollywood ausgerechnet mit einer Hommage an die amerikanische Traumfabrik das Fürchten gelehrt. In diesem Jahr nun sind bei den Oscars so viele künstlerisch hochwertige und thematisch drängende amerikanische Filme angetreten, dass die Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences sich auf keinen klaren Favoriten einigen konnten und nach dem Giesskannenprinzip die vier wichtigsten Oscars – Bester Film, Beste Regie, Bester Hauptdarsteller, Beste Hauptdarstellerin – auf ebenso viele amerikanische Filme verteilt haben, wobei Ben Afflecks Politthriller «Argo» offensichtlich konsensfähiger war als Steven Spielbergs politisch-analytische Präsidentenbiografie «Lincoln», obschon Letztere weitaus anspruchsvoller ist – vielleicht zu sehr, um auf breite Gegenliebe zu stossen.
Das Publikum kann mitreden
Europa ist erneut insofern als Sieger aus der Oscar-Nacht hervorgegangen, als der österreichische Regisseur Michael Haneke verdientermassen für sein zärtliches Altersdrama «Amour» den Preis für den besten nichtenglischsprachigen Film gewann und sein Landsmann Christoph Waltz nun schon zum zweiten Mal einen Oscar für eine Nebenrolle in einem Film von Quentin Tarantino erhielt, nach «Inglourious Basterds» jetzt für «Django Unchained». Und die herausragende Schauspielkunst des Briten Daniel Day-Lewis als Abraham Lincoln verhalf diesem zu seinem dritten Academy Award, ein Rekord in der Oscar-Geschichte. In diesem Zusammenhang darf durchaus daran erinnert werden, dass der erste jemals mit einem Darsteller-Oscar ausgezeichnete Schauspieler ebenfalls ein Europäer war: Der Deutsche Emil Jannings erhielt die Trophäe 1929 für seine Rollen in den amerikanischen Filmen «The Last Command» und «The Way of All Flesh».
Die europäische Filmproduktion ist heute für die USA von weitaus grösserer Bedeutung als in vergangenen Jahrzehnten, und damit sind nicht nur die zahlreichen Remakes europäischer Filme durch amerikanische Filmemacher gemeint wie jüngst die an der Berlinale mit dem Regiepreis geehrte Komödie «Prince Avalanche», der ein isländischer Film zugrunde liegt. Dass das europäische Kinopublikum die Oscar-Verleihung heutzutage mit grösserem Interesse verfolgt als früher, hängt damit zusammen, dass es viel besser mitreden kann. Denn während früher die meisten der ausgezeichneten amerikanischen Filme noch lange nicht die europäischen Kinos erreicht hatten und die Zuschauer damit keine Chance hatten, die Entscheidungen nachzuvollziehen, gibt es heutzutage praktisch kein Werk mehr, dass nicht vor der Verleihung schon in den hiesigen Kinos zu besichtigen gewesen wäre. Hollywood hat in Zeiten schwindender Kinos und zurückgehender Besucherzahlen erkannt, dass es ohne den europäischen Markt nicht leben kann und will. Daher werden die Filme so zeitig exportiert, dass sie von der medialen Aufmerksamkeit im Umfeld der Oscar-Verleihung kommerziell profitieren. Es ist eine Win-win-Situation, denn auch das hiesige Publikum freut sich darüber, quasi ein Oscar-Votum an der Kinokasse abgeben zu können.
Hinzu kommt, dass die Produktionsbedingungen in manchen europäischen Ländern wie etwa Deutschland so günstig sind – nicht zuletzt wegen grosszügig sprudelnder Fördermittel –, dass immer mehr amerikanische Filmemacher, die in ihrer Heimat solche Vorzüge nicht geniessen, davon zu profitieren suchen, indem sie etwa in den gut gebuchten Studios Potsdam-Babelsberg drehen. Das nahe Berlin ist nicht nur zu einem begehrten Dreh-, sondern auch Handlungsort geworden, wie etwa die Thriller «Unknown» (2011) oder «Passion» (2012) zeigen.
Ein unsouveräner Verlierer
Der grösste Verlierer dieser Oscar-Verleihung ist übrigens ebenfalls im Ausland zu finden: Iran hat die Auszeichnung von «Argo», in dem es um die Befreiung von als Geiseln gehaltenen Botschaftsangehörigen in Teheran Anfang der achtziger Jahre geht, als «politisch motiviert» bezeichnet, provoziert auch durch die Tatsache, dass die Verleihung von Michelle Obama bekanntgegeben wurde, was wohl tatsächlich nicht ganz zufällig geschah. Dass aber das iranische Regime, das einen Gegenfilm zu «Argo» angekündigt hat, sich gezwungen sieht, im Affekt bei jeder Gelegenheit rhetorisch scharfes Geschütz aufzufahren – so wie jüngst auch durch den Einschüchterungsversuch gegen den an der Berlinale ausgezeichneten, in seiner Heimat verfolgten iranischen Regisseur Jafar Panahi –, zeugt von enormer Unsouveränität. Drohgebärden aber werden die iranischen Künstler nicht zum Schweigen bringen, sondern ihnen im Gegenteil mehr Aufmerksamkeit verschaffen, auch im eigenen Land.