Schwarzfahrer in Washington, Frankfurt und Berlin

 

Januar 3, 2013

 

Autor: Frank Wiebe*

 

Man spricht gerne von Trittbrettfahrern. Aber heute gibt es ebenso wenig noch Trittbretter, auf denen man außen mitfahren kann, wie Schaffner im Nahverkehr. Man sollte daher die Leute beim Namen nennen: Schwarzfahrer. Sie stellen ein ökonomisches Problem dar, denn sie maximieren den eigenen Nutzen auf Kosten der anderen, ähnlich wie Steuer- oder Versicherungsbetrüger. Und es gibt sie auch in der Politik. Zum Beipiel in Washington. Aber möglicherweise auch in Berlin und Frankfurt. Insofern brauchen wir eine kleine politische Ökonomie des Schwarzfahrens.

 

Im Senat und im Repräsentantenhaus haben die US-Politiker sich  mit überwältigender Mehrheit auf ein halbes finanzpolitisches Konzept geeinigt. Keine Glanzleistung, aber immerhin überhaupt eine Leistung, nachdem die Parlamentarier in den letzten Jahren weniger Gesetze auf den Weg gebracht haben als in fast allen Perioden zuvor (was Zyniker vielleicht noch als gute Nachricht werten) und sich vor allem gegenseitig blockiert haben. Aber alle wussten: Die amerikanischen Bürger wollten endlich eine Einigung sehen. Dieser Druck von der Öffentlichkeit hat die Einigung bewirkt.

 

Es gab aber in beiden Kammern und in beiden Parteien Leute, die dagegen gestimmt haben. Man kann diese Leute Überzeugungstäter nennen. Man kann ihnen den Mut zugestehen, dass sie sich nicht dem allgemeinen Druck gebeugt haben. Man kann sie aber auch Schwarzfahrer nennen.

 

Denn es war völlig klar: Keine Einigung wäre ein Desaster gewesen. Für die USA, vor allem aber auch für die amerikanische Politiker-Kaste, die sich endgültig unglaubwürdig gemacht hätte. Auch die Abweichler profitieren davon, dass es die Einigung gegeben hat. Sie müssen ihren Wählern nicht erklären, warum sie plötzlich höhere Steuern zahlen müssenweil dieser Effekt eben nicht eintritt nach der Einigung.

 

Zugleich haben die Abweichler aber ihren eigenen Nutzen maximiert. Denn sie müssen ihren Wählernanders als die Mehrheit der Abgeordnetenauch nicht erklären, warum sie Wahlversprechengebrochenhaben. Natürlich ist das eine unsinnige Formulierung: Wahlversprechen können immer nur besagen, was man machen möchtenie, was man tatsächlich im politischen Alltag durchgesetzt bekommt. Aber so wird es doch oft kommuniziert: Wenn jemand einen Kompromiss eingeht, heißt es, er habe ein Versprechen gebrochen. Und genau in der Position ist die Mehrheit der Republikaner, die von dem Tabu abgerückt ist, überhaupt Steuersätze zu erhöhen. Ebenso die Mehrheit der Demokraten, die von ihren ursprünglichen Steuerplänen doch erhebliche Abstriche machen mussten.

 

Nur die Abweichler habenkeine Versprechen gebrochen”. Und das kann für sie von großem Vorteil in den nächsten Wahlen sein. Sie können sich den Wählern – und den jeweiligen Falken in der eigenen Parteials “integer” präsentieren. Dabei haben Sie nur ihren eigenen Nutzen maximiert und es der Mehrheit überlassen, die politischen Kosten für ein Ergebnis zu tragen, von dem sie selbst auch profitieren. Schwarzfahrer eben.

 

Gibt es das auch woanders? Natürlichwahrscheinlich gehört es zum politischen Alltag. In Europa fällt mir dazu vor allem die Notenbankepolitik ein – und die Politik rund um die Notenbankpolitik. Bundesbankpräsident Jens Weidmann, den ich sehr schätze und für sehr integer halte, nimmt immer wieder in der Öffentlichkeit eine Gegenposition zu seinen anderen Kollegen in der Europäischen Zentralbank ein. Er kann sich hiermit als “integer” im Sinne der von den Deutschen hochgeschätzten Bundesbank-Tradition präsentieren.

 

Gleichzeitig kann er sicher sein, dass die anderen Kollegen mit geldpolitisch unsauberen Beschlüssen dafür sorgen, dass die Euro-Zone nicht auseinander fliegt. Davon profitiert auch Weidmann. Denn wenn die Euro-Zone auseinanderfliegen würde, müsste er den Deutschen erklären, warum er das zugelassen hat, und wieso das trotz Chaos an den Kapitalmärkten und höherer Arbeitslosigkeit in Deutschland eine gute Idee war. Weil die anderen sich die Hände schmutzig machen, braucht der das nicht. Auch hier: Die anderen tragen die politischen Kosten für die Euro-Rettung, von der auch er profitiert.

 

Dasselbe gilt für alle Politiker in Berlin, die sich hin und wieder darin geübt haben, auf die Europäische Zentralbank einzudreschen. Denn auch sie hätten den Wählern eine Menge zu erklären, wenn der Euro nicht gerettet würde. So können sie diese Aufgabe zu einem guten Teil der EZB überlassen – die trägt die politischen Kosten – und profitieren selbst auch davon, dass es nicht zum großen Knall kommt.

 

Wären alle Menschen Schwarzfahrer, dann könnte man keine Bahn betreiben. Zum Glück gibt es viele ehrliche Menschen: Nicht jeder maximiert den eigenen Nutzen, in dem Punkt liegt die herkömmlische ökonomische Theorie falsch. Das gilt auch für die Politik: Sonst könnten dort nie schwierige Entscheidungen gefällt werden.

 

*Frank Wiebe ist ein Finanz-Allrounder. Er kennt Banken und Versicherungen von innen und begleitet die Börsen seit Jahren. In seinen Kommentaren ordnet er kurzfristige Entwicklungen ein und analysiert die langfristigen Trends und den Zeitgeist an den Märkten.