Amerika späht, Europa schläft
Von
UDO VETTER
Mit Prism ist es wie mit
der Radioaktivität: Am Anfang merkt man nichts. Die Untätigkeit der Europäischen Union rechtfertigt das nicht.
Seit rund zwei Monaten erfahren
wir Tag für Tag häppchenweise mehr darüber, welche Dimension die Überwachungsprogramme der USA und
Großbritanniens haben – und
wie direkt sie sich auf das Leben jedes Bürgers
auswirken. Die Möglichkeit zu unbefangener Kommunikation ist faktisch auf das persönliche Gespräch und die Briefpost zurückgeworfen.
Für unsere Rechtsordnung ist das nicht weniger als
ein Super-Gau. Prism und Tempora hebeln gleich zwei Grundrechte
aus: das Fernmeldegeheimnis
und das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung. Außerdem ist die Menschenwürde zumindest angetastet. Denn es gehört
zu den ehernen
Prinzipien unserer Verfassung, dass kein Bürger zu
einem bloßen Objekt staatlicher Betätigung gemacht werden darf. Das aber geschieht mit der Komplettspeicherung
und Auswertung unserer Kommunikation.
Mit dem Raubbau an unseren elementaren Rechten ist es leider
wie mit der
Radioaktivität: Anfangs merkt man nichts. Deshalb ist es
nicht verwunderlich, dass der Protest gegen Prism und Tempora zwar stattfindet, aber verhalten ausfällt.
Aufgedrängte digitale
Existenz
Vielen dürfte schlicht noch nicht
bewusst sein, dass bloße Abstinenz
von Facebook und WhatsApp
das Problem nicht löst. Jede Persönlichkeit ist längst eng mit dem Internet verwoben, auch ohne eigenes Zutun
und sogar ohne Internetanschluss. Es gibt eine aufgedrängte digitale Existenz.
Beispiele sind die alltägliche Nutzung des Mobilfunks und des Festnetzes,
die aus irgendeinem Grund als „sicher“
gelten. Dabei ist der allergrößte
Teil der Verbindungen schon lange internetbasiert und damit dem Zugriff
globaler Überwacher ausgesetzt. Gleiches gilt für die Datenerfassung bei Behörden und beispielsweise für alle Daten, die private Unternehmen, Ärzte und Anwälte über ihre
Kundschaft speichern und natürlich auch online austauschen.
All
dem lässt sich nicht entgehen,
selbst wenn man es wollte. Überdies:
Die meisten wollen auch gar nicht zurück in die vordigitale Zeit! Weder privat
noch am Arbeitsplatz. Nicht nur das Verfassungsrecht,
sondern auch die praktischen Konsequenzen für jeden einzelnen
geben folglich Anlass zu energischem
Handeln.
Doch was geschieht?
Eine Schlüsselrolle
hätte zunächst die Europäische Union. Sie kann den USA unzweifelhaft auf Augenhöhe begegnen. Neben dem Grundgesetz
und den Verfassungen aller anderen EU-Partner verletzen
Prism und Tempora auch die Europäische Menschenrechtskonvention.
Dort ist der Schutz der Privatsphäre
ausdrücklich verankert.
Europa könnte mehr tun
Hier hätte es sich angeboten,
dass die EU sich für einen förmlichen
Untersuchungsausschuss entscheidet.
Dafür gibt es sogar ein
historisches Vorbild. Im Jahr 2000 formierte
das Europäische Parlament wegen der Echelon-Affäre einen Untersuchungssausschuss,
der sich mit den damaligen Abhörpraktiken der NSA befasste. Der
Abschlussbericht aus dem Folgejahr offenbart,
in welch beängstigendem Ausmaß die US-Behörde schon seinerzeit die Kommunikation in Europa überwachte.
Aktuell hat sich das Europarlament immerhin aufgerafft, eine Art Unterausschuss ins Leben zu rufen. Das Gremium
ist dem Innenausschuss
angegliedert. Es soll das Ausmaß von Prism und Tempora klären und Empfehlungen geben, wie sich
die Grundrechte der EU-Bürger wirksam schützen lassen. Auch wenn offiziell
also von einer „Sonderuntersuchung“
die Rede ist, hat der Überwachungsskandal bei der EU letztlich
nur den Rang eines bürokratischen Vorgangs unter vielen erhalten.
Andere Maßnahmen scheinen auf EU-Ebene offenbar wenig opportun. Ein Vertragsverletzungsverfahren
gegen Großbritannien läge in der Luft,
aber es wird
nicht energisch angestoßen. Ebenso ist es bei
laufenden Verhandlungen, etwa über das Freihandelsabkommen
mit den USA. Hier würden auch keine
unterschiedlichen Themen vermengt: Immerhin macht Prism nach derzeitigem Stand keinen Halt bei Betriebsgeheimnissen von Firmen. Mehr als
die lapidare Versicherung der USA, die Überwachung nicht für den eigenen
Vorteil zu nutzen, liegt bislang
nicht vor.
Leider wird anscheinend auch nicht erwogen, die Bank- und Fluggastdatenabkommen mit den USA
auf den Prüfstand zu stellen. Jeden Tag übermitteln die EU-Länder zum Beispiel freiwillig
Abermillionen Datensätze über die Finanzbewegungen auf unseren Bankkonten. Selbst der von den USA nicht dementierte Umstand, dass die NSA EU-Gebäude verwanzt hat, scheint kein Anlass für
eine Abweichung vom „business as usual“ zu sein.
Auch auf völkerrechtlicher
Ebene wäre es Zeit für
eine gemeinsame europäische Initiative. Die grenzüberschreitende
Überwachung ist offensichtlich ein Problem, dem nur mit
globalen Übereinkommen begegnet werden kann. Vor zehn
Jahren nahm der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit
auf. Es handelt sich um eine Einrichtung, um die in den Vereinten Nationen lange gerungen wurde. Über Jahrzehnte
war es kaum vorstellbar, dass die Weltgemeinschaft sich zu so einer Institution zusammenrauft. Letztlich ist es trotz
aller Widrigkeiten gelungen – auch wenn gerade die USA den Gerichtshof bis heute nicht anerkennen.
Das
kann, muss aber kein schlechtes Omen für entsprechende Initiativen sein. Denn nur wenn
die Politik untätig bleibt oder sich
in Symbolhandlungen flüchtet,
sind alle sich bietenden Chancen von vornherein vergeben. Das kann sich gerade ein
Rechtsstaat wie Deutschland
nicht leisten.
Udo Vetter ist Rechtsanwalt und Betreiber des
„law blog“. Bei der Bundestagswahl kandidiert er für die Piratenpartei
in Nordrhein-Westfalen.