Religion als Ersatz-Identität

 

Von Stephan Hebel

 

Wie kommt es, dass ein lächerlicher Mohammed-Film zu massiven Unruhen führt? Wer nicht versucht, zu verstehen, wird das auch in Zukunft nicht verhindern.

 

Die gute Nachricht zuerst: Der Mohammed-Film, der jetzt die halbe islamische Welt in Aufruhr versetzt, ist eine so offensichtliche und strunzdumme Provokation, dass im Westen niemand auf die Idee kommt, das Machwerk zu verteidigen. Das erspart uns wenigstens den absurdesten Teil der Debatte, die wir vor Jahren über die dänischen Mohammed-Karikaturen führen durften.

 

Damals ging es nicht nur darum, die Meinungsfreiheit auch derjenigen zu verteidigen, die den größten Blödsinn verbreiten, und sei es in herabsetzender und provokativer Absicht. Das war damals und ist heute richtig: Wer die Freiheit mit Verboten verteidigen wollte - zum Beispiel mit Blasphemie-Verboten, wie der putzige katholische Glaubensdichter Martin Mosebach sie gern hätte -, der gibt die Freiheit, die zu retten er vorgibt, auf.

 

Als aber die dänische Zeitung Jyllands-Posten Mohammed pauschal mit Bombenattentätern gleichsetzte - was im Kern auch nicht viel besser war als das Filmchen aus Kalifornien -, da stilisierte sich die halbe Weltpresse zur Heldin, indem sie die umstrittenste Karikatur nachdruckte. Als wäre es kein Unterschied, ob man die Freiheit verteidigt, Unsinn zu verbreiten, oder ob man den Unsinn selbst verbreitet.

 

Zumindest insofern sind wir heute etwas weiter: Schnell und deutlich hat die US-Regierung klar gemacht, dass sie zwar gegen die Verbreitung des Dumm-Filmchens nichts unternehmen kann, will und wird, dass sie aber den Inhalt damit keineswegs billigt. Das ist der richtige Weg, die Freiheit zu buchstabieren, die wir gegen religiös fanatisierte Muslime und ihre gewalttätigen Proteste zu verteidigen haben.

 

Diese Proteste kann man natürlich nur verurteilen. Wer zu Hause mit guten Gründen auf dem Recht von Medien wie der "Titanic" besteht, die katholische Kirche durch jeden möglichen Kakao der Welt zu ziehen, der kann und darf es nicht billigen, wenn vor westlichen Botschaften nach Verboten und Schlimmerem gebrüllt wird. Aber den Versuch, sich diese Art der Eskalation zu erklären, darf und muss man machen.

 

Die fatale Rolle der Ersatz-Identität

 

In Kairo und Tripolis zeigt sich wieder einmal: Der Islam - beziehungsweise das, was sich ein paar Fanatiker davon zusammenreimen - spielt in den Umbrüchen der arabischen Welt, des Nahen und Mittleren Ostens bis nach Pakistan die fatale Rolle einer Art Ersatz-Identität.

 

All die Länder dieses islamisch geprägten Krisenbogens befinden sich in höchst prekären Phasen ihrer Entwicklung. Sie alle schwanken zwischen dem "Modernisierungsweg" der US-amerikanischen Art, der ihnen teils diktatorisch vorgegeben wurde, und der Suche nach einer eigenen Identität. Einer Identität, die sich im besten Falle aus der islamisch geprägten Geschichte speisen könnte wie die europäischen Werte aus dem Christentum, die aber von der Religion und ihren Gesetzen nicht beherrscht werden dürfte.

 

Zu dieser Identität würde nicht nur eine neue Kultur zwischen Islam und weltlicher Demokratie gehören, das auch. Zu ihr würde auch die Chance gehören, sich an etwas anderem zu orientieren als nur an Gottesbildern einerseits und Feindbildern andererseits. Die Chance auf wirtschaftliche, berufliche Perspektiven. Die Chance auch auf eine Freiheit, die zu lernen viele Menschen in den islamischen Ländern nie die Gelegenheit hatten.

 

Daran fehlt es fast überall in den islamisch geprägten Ländern, und das wird sich sicher nicht ändern, wenn der Westen durch vermeintlich "humanitäre" Kriege und gelegentliche Provokationen die Feindbilder immer neu bestätigt. Es wird sich nur ändern, wenn wir - die Einhaltung der Menschenrechte vorausgesetzt! - zu akzeptieren lernen, dass andere Kulturen den Weg in die Freiheit auf andere Weise gehen als wir. Vielleicht ist es auf diesem Weg sogar hilfreich, dass in Ägypten jetzt ein Muslimbruder regiert. Vielleicht hat nur er die Chance, sein Volk mitzunehmen in einen säkularisierten Islam. Wenn er es denn will.

 

Noch einmal: All die Erklärungen rechtfertigen keinen einzigen der Steinwürfe, keinen der Brandsätze und erst recht keinen der Morde, die die Fanatiker in Bengasi oder anderswo begehen. Das alles sind Verbrechen, die Verbrechen genannt werden müssen. Aber wenn wir nicht zu verstehen versuchen, wie aus einem lächerlichen Anlass so etwas entsteht, dann werden wir es auch in Zukunft nicht verhindern. Und schon gar nicht, wenn wir auf die Feindbilder islamischer Fanatiker unsererseits antworten mit dem Feindbild "Islam". Dann wären wir nämlich nicht viel besser als sie.