Aufklärung durch Verrat
Wikileaks versorgt
uns mit vertraulichem
Material über Afghanistan. Daraus
lassen sich unterschiedliche Schlüsse ziehen.
Von
Arno Widmann
Geheimnisverrat ist nichts
Neues in der Kriegsgeschichte. Aber dass 75.000 als geheim bezeichnete Berichte auf einen Schlag der Weltöffentlichkeit
zur Verfügung gestellt werden, das hat es noch nicht
gegeben. Es wird eine Weile dauern,
bis selbst die Kenner der Materie diesen
Berg verarbeitet haben.
Wikileaks erklärt
uns für mündig.
Nicht ganz. Denn 15.000 Berichte hält die Organisation zurück. Ihre Veröffentlichung könnte - so erklären Wikileaks
und die beteiligten Printmedien
- Menschenleben gefährden.
Das Bild, das wir uns jetzt machen
können, mag sich nicht sehr
unterscheiden von dem, das viele schon vorher
hatten. Dennoch steht jetzt fest: Frieden wird Afghanistan die nächsten Jahre nicht haben und schon gar nicht einen Frieden ohne
die Taliban. Der Zeitpunkt, zu
dem das möglich schien, ist lange
vorbei. Er verstrich ungenutzt. Jetzt führt kein
Weg mehr an
den Taliban vorbei. Sie wegzubombardieren hat nicht geklappt und niemand glaubt mehr, dass
es jemals klappen könnte.
Es heißt,
an einen Rückzug aus Afghanistan sei jetzt nicht zu
denken, weil man das Land nicht seinem Schicksal,
sprich: die Bevölkerung den
Taliban überlassen dürfe.
Die Veröffentlichung der Berichte macht klar, dass das auch noch in drei,
vier, fünf Jahren so sein wird. Es gibt also zwei Schlüsse, die man aus der Veröffentlichung
ziehen kann: A) Wir brauchen noch
Zeit, mehr Zeit, als bisher öffentlich erklärt wird, um das Land in den Griff zu bekommen.
Also müssen wir noch länger mit
noch mehr Truppen dort bleiben;
B) Wir haben es in den vergangenen Jahren nicht geschafft.
Wir werden es auch in den nächsten Jahren nicht schaffen. Also gehen wir möglichst
bald wieder raus.
Womöglich haben die Berichte jetzt ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden, um ihr den ersten Schluss ans Herz
zu legen. Vielleicht ist die Quelle, aus der
Wikileaks schöpft, nicht so
weit von der Regierung entfernt, wie wir im
ersten Enthusiasmus annehmen. Vielleicht wird Wikileaks, werden New York
Times, Guardian und Spiegel und wir dazu benutzt, um ein Klima zu
schaffen, in dem ein Rückzug vom
Rückzug angesagt werden kann. Die Aktion wäre dann,
so aufklärerisch sie scheint, in Wahrheit ein Stück Gegenaufklärung.
Das Spiel von intelligence und counterintelligence.
Aber was heißt "in Wahrheit" in diesem Intrigendschungel? Immerhin wäre denkbar, dass
ein Großteil der Öffentlichkeit, der so geschickt in Richtung A gelenkt werden sollte, sich angesichts der Berichte für
B entscheidet. Das Spiel mit
der Öffentlichkeit ist ein gefährliches
Spiel. Für alle Beteiligten. Die Öffentlichkeit selbst, also wir, neigen dazu, wenn
wir gar zu genau wissen, was getan werden müsste,
aber nicht den Hauch einer Vorstellung
davon haben, wie wir es
tun könnten, das Problem resigniert fallenzulassen und uns dem nächsten
- hoffentlich realisierungsfähigeren
- zuzuwenden.
Aufklärung verschafft einem nur in den seltensten Fällen auch ein Wissen
darüber, wie sie in die Tat umgesetzt werden kann. Wenn
sie daran immer wieder scheitert,
bewirkt sie Resignation. Wissen ist eben
nicht Macht. Wissen ist meist
kaum mehr als die Erkenntnis der eigenen Ohnmacht.
Aus der ziehen wir gar zu oft den Schluss, dann doch
lieber auf das Wissen zu verzichten und die Mächtigen weiter machen zu lassen.