Der stille Skandal

 

Schock. Entsetzen. Empören. Verdrängen. Das übliche Muster im Umgang mit blutigen Amokläufen hat sich in den USA auch ein Jahr nach dem bisher schlimmsten Massaker in einer Bildungseinrichtung wiederholt. Am 16. April 2007 erschoss der Student Cho Seung Hui an der Universität Virginia Tech in Blacksburg 32 Kommilitonen und Professoren, dann sich selbst. Schock und Entsetzen folgte Empörung. Befürworter einer strengeren Waffenkontrolle empörten sich darüber, dass selbst einer wie Cho, für den ein Richter zwei Jahre zuvor wegen Gewaltrisiken psychiatrische Behandlung angeordnet hatte, ungehindert Schusswaffen kaufen konnte. Gegner empörten sich, weil Universitäten auf ihrem Gelände Schießprügel verbieten. Hätten die Opfer in der Norris Hall auch Knarren gehabt, so die Logik, hätte Cho nicht 32 Menschen töten können.

Schock. Entsetzen. Empören. Verdrängen. Irgendwo dazwischen wird auch immer Besserung gelobt. Im Fall des Blacksburg-Massakers gab es hoffnungsvolle Ansätze. Eine von Virginia-Gouverneur Timothy Kaine eingesetzte Untersuchungskommission verwies in ihrem Bericht vor allem auf zwei begünstigende Faktoren der Wahnsinnstat: Lücken bei der Waffenkontrolle und im Gesundheitssystem, wo psychisch Kranke oft keine Hilfe finden. Über Waffenkontrolle wird in den USA häufig und laut - wenn auch meist folgenlos - diskutiert. Der Umgang mit Menschen, die unter psychischen Problemen leiden, ist hingegen ein stiller Skandal. Auch nach Blacksburg hat die US-Gesellschaft das unbequeme Thema rasch wieder verdrängt.

Dabei steht der blutige Amoklauf vielleicht mehr noch als für den US-Waffenwahn für die oft tragischen Folgen eines Systems, das psychische Leiden erst ignoriert, dann kriminalisiert. "Virginias Gesundheitsgesetze sind fehlerhaft und die Betreuung psychischer Patienten unzureichend", heißt es im Blacksburg-Bericht. In der Schule waren bei Cho Seung Hui schwere Störungen festgestellt worden. Hier nahm man sich der Probleme noch an. Wie Hunderttausende Menschen mit psychischen Leiden blieb er später sich selbst überlassen.

 

Die "National Alliance for the Mentally Ill", eine Interessenvertretung Betroffener, schätzt, dass in den USA bei Kindern und Jugendlichen nur jede fünfte geistige Erkrankung behandelt wird. Bei Erwachsenen dürfte die Quote noch niedriger liegen. Versicherungen schließen oft Leistungen für psychische Leiden aus, staatliche Hilfe kommt meist zu spät. Bezeichnend ist, dass sich die größte psychiatrische Klinik der USA in einem Gefängnis befindet. Laut einer Studie des US-Justizministeriums waren 1998 rund 16 Prozent aller Häftlinge im Land geisteskrank - 283 800 Menschen. Weitere 547 800 befanden sich zur Bewährung auf freiem Fuß. Nach Ablauf der Haftstrafen endet die Behandlung meist, werden Betroffene ohne Medikamente und Hilfe ausgesetzt.

 

Unter dem Eindruck des Blacksburg-Massakers hat der US-Kongress den Verkauf von Waffen an psychisch Kranke inzwischen erschwert. Eine nationale Datenbank soll verbessert, die Weitergabe der Informationen an Waffenläden erleichtert werden. An der Lage der Kranken hat sich nichts geändert. Nur Stigma und gesellschaftliche Ächtung wurden größer.