Verhandlungen im Geheimdienst-Milieu
Das Interesse an den Verhandlungen um das Freihandelsabkommen ist groß. Doch die TTIP-Dokumente werden höchst geheim gehalten. Wikileaks will das jetzt ändern – und eine Großdemonstration am Samstag.
08.10.2015, von CONSTANZE KURZ
Uber einhunderttausend Dollar haben dreitausend Menschen bisher dafür spendiert, potentielle Whistleblower zu motivieren, geheime TTIP-Dokumente freizugeben. TTIP ist das milliardenschwere Handelsabkommen, das seit 2012 zwischen den Vereinigten Staaten und Europa unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausbaldovert wird. Man gibt sich ausgesprochen wirtschaftsnah: Neben den offiziellen Verhandlungen fanden seither etwa sechshundert Treffen mit Lobbyisten und Unternehmensvertretern statt, wie durch Recherchen und Informationsfreiheitsanfragen rauskam.
Wikileaks hatte zur Geldsammlung aufgerufen und verspricht TTIP-Informanten die sechsstellige Summe. Dass der hohe Betrag innerhalb weniger Wochen zusammenkam, zeugt vom wachsenden Interesse an den Geheimverhandlungen. Es geht schließlich neben den Regelungen über Zölle und Handelsrechte, Investorenschutz und die vieldiskutierten Investor-Staat-Klagen auch um Verbraucherrechte, Lebensmittelsicherheit, Umweltstandards, Urheberrecht und Datenschutz. Selbst strittige Detailfragen wie Hormongaben in der Tierzucht oder das Klonen von Tieren werden besprochen.
Die Verhandlungsführer heißen Ignacio Garcia Bercero und Dan Mullaney. Sie klären solche Details mitsamt den zukünftigen Grundzügen des transatlantischen Handels unter sich, bevor das Europäische Parlament und der Europäische Rat am Ende zustimmen sollen, um das TTIP-Abkommen in Kraft zu setzen. Wann das allerdings geschehen soll, ist noch nicht bekannt. Nur dass es noch in der Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Barack Obama dazu kommen wird, scheint ausgeschlossen. Die Zustimmung der nationalen Parlamente in Europa ist bei TTIP nicht von Belang, denn sie behindert eine vorläufige Anwendung des Abkommens nicht.
Analoge Leseräume
Auf beiden Seiten des Atlantiks ist der springende Punkt neben einer generellen Kritik am Freihandel und der geplanten Schattenrechtsprechung seit langem die mangelnde Transparenz der Verhandlungen. Es gibt zwar für die TTIP-Papierstapel „Leseräume“, jedoch nur mit begrenztem Zugang für ein paar Dutzend berechtigte Regierungsmitglieder, die Deutschland dafür angemeldet hat. Sie dürfen zwei Stunden lang lesen und „Kugelschreiber oder Bleistift und Papier“ nutzen, um sich Stichpunkte zu notieren. Verboten sind „Mobiltelefone, Kameras oder sonstige Aufnahmetechnik“. Die TTIP-Verhandlungen scheinen im Geheimdienst-Milieu angekommen zu sein.
Ob und wann dieses lächerliche analoge Leserecht in Anspruch genommen wurde, bleibt indes unklar. Auf einer Bundespressekonferenz im Sommer konnte auf Nachfrage kein einziges deutsches Ministerium bestätigen, dass in diesen Leseräumen ein Mitarbeiter Einblick genommen hätte. Auch das mit der Materie betraute Wirtschaftsministerium musste passen. Man müsse erst mal nachforschen.
Das passt zur Linie, denn was bisher in der politischen Arena zu TTIP verlautbart wurde, ist eine Aneinanderreihung von Aussagen, die von Peinlichkeiten bis zu Unwahrheiten reichen. In die letzte Kategorie hat sich der christdemokratische Bundestagspräsident Norbert Lammert einsortiert, als er letztes Jahr posaunte, durch den transatlantischen Handelspakt sei „von einem jährlichen Wachstumsimpuls von 119 Milliarden Euro auf europäischer und 95 Milliarden Euro auf amerikanischer Seite“ auszugehen. Eine groteske Falschinformation, die Schätzungen zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes für eine ganze Dekade zu einem jährlichen „Wachstumsimpuls“ hochjazzt. Er musste die Aussage zurücknehmen.
Stehtische und Schnittchen
Sein Parteifreund Joachim Pfeiffer, wirtschaftspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, ist auch nicht als Kritiker der Großkonzerne bekannt. In einer hitzigen Bundestagsdebatte am 1. Oktober wollte er Argumente für „das beste Freihandelsabkommen, das wir jemals hatten“, vorbringen. Doch stattdessen lieferte er eine Tirade gegen die „Empörungsindustrie“ ab, die er hinter den internationalen Kampagnen gegen TTIP vermutet. Nach Pfeiffer komme aller Protest gegen TTIP quasi von organisierten Banden im Netz, den „Klickaktivisten“, und sei in keiner Weise legitimiert. Die Verhandlungsdokumente, die online abrufbar sind, würde ja keiner lesen. Was er dabei verschweigt: Es mussten sich erst 150 000 EU-Bürger an der Online-Konsultation der EU-Kommission beteiligen, ehe man sich bequemte, einige Papiere ins Netz zu stellen. Und die von der EU-Kommission zur Verfügung gestellten Dokumente geben den Stand der Verhandlungen vor vielen Monaten wieder, seit Mai kam nichts Neues dazu.
Dass sich Protest dagegen im Netz formiert, sollte niemanden mehr überraschen. Es ist eben der Ort, wo Diskussionen heute stattfinden. Aber dass der Widerstand von lauter „Uninformierten“ komme, wie Pfeiffer behauptet, lässt den wirtschaftspolitischen Sprecher selbst ein wenig unterinformiert erscheinen. Denn neben Dutzenden Initiativen haben auch Rechts- und Wirtschaftsexperten aus Harvard, Yale, Columbia und Berkeley, angeführt vom Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, lautstark und öffentlich gegen das Abkommen und die damit einhergehende Privatisierung des Rechts protestiert. Zu ihnen gesellte sich der zuständige Berichterstatter des EU-Parlaments, der ebenfalls die vorgesehene Schiedsgerichtsbarkeit ablehnt und der Uninformiertheit wohl kaum beschuldigt werden kann.
Diese Woche wird es wohl zum Showdown kommen, denn für den 10. Oktober ist eine Großdemonstration gegen TTIP in Berlin angekündigt, bei der die jahrelange Forderung nach Einbezug der Zivilgesellschaft auf die Straße gebracht werden soll. Man ist an das Scheitern des ACTA-Abkommens 2012 erinnert. Und die „Klickaktivisten“ von der „Empörungsindustrie“ bringen sicher wieder keine Stehtische und Schnittchen mit.