Alarm
13.04.2014
Russland ist ein erbärmlich schwaches Land. Nun hat es einen Pfad beschritten,
der Stärke und Stolz zurückverspricht. Das ist gefährlich. Doch in Deutschland wimmelt es wieder von Russlandverstehern.
Von
Volker Zastrow
Man
muss sich in den Anderen hineinversetzen, auch in der Politik. Dann
kann man besser abwägen, wie man handeln sollte, besser einschätzen, was passieren könnte. Man schützt sich damit
auch vor groben Irrtümern, hat einen freieren Blick, freiere Hände und einen freieren Kopf. Aber wenn das Hineinversetzen in falsches Rechtfertigen übergeht, wenn die Empathie schließlich dazu führt, dass
man sich selbst und seine eigenen Interessen darüber vergisst, dann sind all diese
Vorteile wieder verspielt. Ja, man steht sogar noch
schlechter da als ohne ein
solches Übermaß an falschem Einfühlungsvermögen.
Anders ausgedrückt: Wenn einer mich schlägt,
muss ich ihn erst einmal davon
abbringen. Warum er es tut, darüber
kann ich hinterher nachdenken. Aggression mit Empathie zu
begegnen, bedeutet nur, ihr nachzugeben.
Bedeutet, dass man verliert. Aber wer tut so etwas schon? Naja – wir.
In
Deutschland wimmelt es wieder von Russlandverstehern, seit Moskau mit
einem illegalen Referendum
und Waffengewalt der
Ukraine die Krim entrissen
und die Schwarzmeer-Halbinsel annektiert
hat. Seitdem wird in
Deutschland dauernd erklärt,
wie recht doch Putin damit eigentlich hatte, und dass der Westen
ihn gleichsam dazu getrieben habe. Die EU und der Westen sind schuld
an Putins politischer
Aggression. Man muss sich wirklich
enorm verrenken, um das glauben zu können,
ist es doch
schon auf den ersten Blick offenkundig falsch. Und doch fliegen diese Ideen
durchs offene Fenster hinein wie Stubenfliegen. Spätestens, seit der „stern“ die Behauptung in die
Welt setzte, der Westen habe seinerzeit
Gorbatschow versprochen, dass die Nato sich
nicht ausdehnen werde, wenn sein
Imperium zerfalle. Das wurde allenthalben nachgedruckt, als sei es eine
gesicherte historische Tatsache. Dabei ist es einfach
Unfug.
Ist schon in Vergessenheit geraten – hier, in Deutschland – dass die Mitgliedschaft der Bundesrepublik im westlichen Militärbündnis zuletzt als wichtigstes
Hindernis vor der Wiedervereinigung stand? Die SPD brachte damals
gewissermaßen die Stalinnote
wieder ins Spiel: Man dachte
laut darüber nach, ob nun nicht doch noch ein
einiges, bündnisfreies
Deutschland wiedererstehen könne,
wie es der
sowjetische Diktator 1952 vorgeschlagen hatte. Den Sozialdemokraten waren solche Überlegungen ohnehin nicht fremd,
sie neigten nicht zu knapp
seit den siebziger Jahren wieder neutralistischen
Ideen zu; das nannte sich „zweite
Phase der Entspannungspolitik“.
Auch unter National-Konservativen gab es in den achtziger Jahren eine neutralistische Strömung. Warum also nicht als Preis
für die Wiedervereinigung zahlen, was man sich sowieso wünschte: endlich raus aus
dem Ost-West-Konflikt, blockfrei?
Doch die Wiedervereinigung
kam, wie sie kam, weil
Gorbatschow tat, was er tat
– und was viele kaum für möglich gehalten
hatten: Er nahm die Ausdehnung der Nato hin.
Enzensberger hat ihn deshalb unter die „Helden des Rückzugs“ eingereiht. Etwas bodennäher kann man sagen, dass Gorbatschow
Realist war. Ihm war die Ausgezehrtheit
und Schwäche seines Landes bewusst. So kam ganz Deutschland in die Nato. Und
Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Tschechien, Ungarn, Kroatien, Bulgarien, Rumänien. Doch jetzt, ein
Vierteljahrhundert später, breitet sich ausgerechnet
in Deutschland die Legende aus,
man habe den Russen etwas ganz anderes
versprochen. Wie kommt das? Lieben die Deutschen die Russen so sehr, dass sie
für die Krim sogar die eigene Geschichte umschreiben?
Nicht wirklich. Dann würden sie
öfter in Russland Urlaub machen als,
beispielsweise, in Amerika.
Nein, die Deutschen haben
Angst vor den Russen. Wie der Mist im
Beet ist diese Angst der Nährboden für
solche Legenden. Denn solche Erzählungen
beruhigen so schön. Wenn wir, oder
besser noch, die EU und die
Amerikaner schuld sind am Treiben der Russen in der
Ukraine, dann ist im Grunde alles
gut. Es hat seine Ordnung. Wir
können ruhig schlafen.
Nach zwei furchtbaren und furchtbar verlorenen Kriegen ist kein Wunder,
dass tief in den Deutschen die Angst wurzelt. Die
Angst vor den Russen ist ebenso wenig
verwunderlich – nach den Kriegsverbrechen, die Deutsche in Russland
und Russen in Deutschland begangen
haben. Aber was soll’s? Gedanken, die dazu dienen, die Angst auszureden, sind falsche Gedanken, und Entscheidungen, die man fällt, nur um seine Angst zu lindern, sind falsche
Entscheidungen. Man muss den Dingen
ins Auge sehen und richtige Entscheidungen treffen. Und die Dinge liegen so, dass nun einmal erheblicher Grund zur Sorge
besteht.
Putin
handelt in der Ukraine kriegerisch. Er ist auf fremdes Territorium einmarschiert. Er kujoniert das Land weiter. Er hat den angekündigten Abzug der Truppen von der Grenze nicht wahr
gemacht. Er erpresst mit dem
Gas. Seine Hilfstruppen destabilisieren
die Ukraine, hantieren mit Kriegsfackeln. Russland betreibt gegenüber dem Nachbarstaat Ukraine eine Politik völkerrechtswidriger
Aggression. Verantwortlich dafür
ist nicht der Westen, sondern
der Kreml. Und all das ist gefährlich, schon aus dem
einfachen Grunde, dass Putin mit dieser Politik Erfolg hat. Niemand redet mehr davon,
ihm die Beute wieder wegzunehmen. Und wer Erfolg mit
etwas hat, macht weiter.
Russland ist der größte Staat
der Welt – doch so stark, wie es durch
die Augen seiner kleinen Nachbarn oder durch
die Brille der Angst betrachtet wirkt, ist das Land in Wahrheit ganz und gar nicht. Es ist, genau genommen,
ein schwaches Land mit einem starken
Mann an der Spitze. Wie stark, wie übermächtig Putin ist, weiß die Welt spätestens, seit er, mit
löblicher Rücksicht auf die
Verfassung, für vier Jahre Medwedew
als Präsidenten installierte, um sich dann ins Amt zurückwählen zu lassen. Es wäre
schön, wenn Putin wirklich dieser lupenreine Demokrat wäre.
Aber Russland ist keine lupenreine
Demokratie. Das Land ist erbärmlich schwach – vielleicht ist das heutige Russland, relativ gesehen, sogar schwächer als die Sowjetunion zur Zeit ihres
Untergangs. Denn wirtschaftlich kann man Russland nicht als Mittelmacht bezeichnen, schon gar nicht, wenn man die Hauptquelle seines allzu niedrigen Wohlstands, die Rohstoffausfuhren, herausrechnet.
Nichts gegen das Verkaufen der eigenen
Schätze. Das an sich ist aber kein
nachhaltiges Wirtschaften.
Weil es daran fehlt, ist die Lage in Russland so miserabel. Anders als die Länder, die es in der Sowjetzeit ausgebeutet und unterdrückt hat, ist es auch
nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht hochgekommen. Darüber hinaus hat sich Russlands relative Macht durch den Aufstieg und das Wirtschaftswachstum
Chinas weiter verringert.
Das
ist der Befund:
Alarm. Weil das schwache Russland
jetzt einen Erfolgspfad beschritten hat, der ihm seine entbehrte
Stärke, seinen verlorenen Stolz zurück verspricht. Putin ist der Avatar dieses Stolzes, seine Inkarnation. Und
das ist, noch einmal: gefährlich. Für die russischen Nachbarn, zu denen
auch wir gehören, und für die Welt. Was soll man tun? Schlaflieder
singen hilft jedenfalls nicht. Mit den Russen reden, klar, klingt
gut. Küssen kann man freilich nicht alleine. Wenn Moskau
schon vor der Annexion der
Krim nicht mit sich reden
ließ, was soll das Reden hinterher eigentlich erbringen? Wir haben es
nicht mit einem atmosphärischen Problem zu tun, sondern
mit einem sicherheitspolitischen. Sicherheitspolitische
Risiken kann man mit atmosphärischen Mitteln nicht hinreichend
begegnen. Sondern durch Rüstung. Die guten Jahre sind
vorbei, der Westen muss aufrüsten.