Der Anfang vom Ende in Afghanistan
Der Abzug aus Afghanistan hat begonnen: Die Bundeswehr gibt ihren ersten großen Stützpunkt auf. Zurück bleibt das Gefühl, die Mission nicht vollendet zu haben. Und die Angst vor neuem Krieg. von Joachim Zepelin
In der Mitte des Laderaums türmt sich Gepäck. Rucksäcke, Kisten und zwei große Hundeboxen. 16 Passagiere mit Splitterwesten drücken sich in die Stoffsitze des Bundeswehrhubschraubers, in dessen Inneren sie noch mehr schwitzen als draußen in der Hitze. Ein Soldat schaut in den bunten Karton in seinen Händen und prüft, ob sich die drei Schildkröten noch bewegen, die er ausfliegen will. Ein anderer lockt zwei Hunde durch den engen Raum in die Boxen und schließt sie ein. Ein Pfarrer ist an Bord, auch seine Mission ist zu Ende. Es geht nach Hause. Nach Deutschland. Der Pilot schaltet den Rotor an.
Wieder verlässt ein Trupp deutscher Soldaten an diesem Septembertag das Feldlager der Bundeswehr in Faisabad. Vor acht Jahren haben die Deutschen den Stützpunkt für bis zu 500 Soldaten im äußersten Norden von Afghanistan aufgebaut, jetzt ist es der erste größere, den sie räumen. Am Dienstag haben sie das Lager an die afghanische Bereitschaftspolizei übergeben. Es ist der Anfang vom Ende der umstrittensten Bundeswehraktion aller Zeiten. Der Abzug aus Afghanistan hat begonnen.
Im Dezember 2001 hatte die Bundesregierung die ersten Truppen an den Hindukusch entsandt, zum Kampf gegen die radikalislamischen Taliban-Milizen. Mit bislang 52 Toten ist es für deutsche Soldaten der blutigste Einsatz seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Nun ist Schluss. Bis 2014, so hat es die Politik unter dem Druck der Öffentlichkeit beschlossen, soll die Bundeswehr Afghanistan verlassen - obwohl der Auftrag weder erfüllt noch das Land stabilisiert ist. Für die Bundeswehr ist der Abzug die größte logistische Aufgabe ihrer Geschichte: In den nächsten zwei Jahren müssen 8650 Container nach Deutschland verfrachtet werden, 250 davon gefüllt mit Munition. Dazu 1900 Fahrzeuge, davon 1200 gepanzert. Tausende Computer, Drucker, Telefone, Teller, Zelte, Betten und Generatoren werden gezählt, verpackt und verschifft. Etwas Vergleichbares gab es noch nie.
Oberstleutnant Gunnar Steinseifer sitzt in seinem kargen Büro am Tisch, vor sich einen Stapel bunter Powerpoint-Ausdrucke. Sie zeigen, wie sich Warenströme und Personaltransporte bewegen. Der Offizier ist der Chef des Logistik- und Unterstützungsbataillons in Masar-i-Sharif, der oberste Lagermeister der deutschen Truppen am Hindukusch. Fragt man den Zahlenmeister, wie man einen solchen Einsatz plant, sagt er: "Da brauchen Sie erst mal pro Mann und Tag fünf Liter Wasser in Flaschen und noch mal fünf Liter lose." Wann immer irgendwo im deutschen Einsatzgebiet eine Zange, eine Matratze oder eine Waffe gebraucht wurde, Steinseifer hatte sie im Depot. Wenn er heute auf die Materialströme schaut, sieht er ein anderes Bild: "Die Pfeile kehren sich um."
An der Geschwindigkeit, mit der seine Bestände abschmelzen, lässt sich ablesen, was draußen gerade geschieht. Seit Wochen strömt mehr Treibstoff aus seinen Tanks als normal, durchschnittlich 84.000 Liter am Tag. "Wir brauchen jetzt sehr viel mehr Transportleistung", sagt Steinseifer, der auch amerikanische Frachtjumbos versorgt. Mehr als 30.000 US-Soldaten sind schon abgezogen, 70 Stützpunkte haben sie aufgegeben.
Nun ziehen auch die Deutschen ab. Faisabad ist das Modellprojekt. In Gedanken ist der Cheflogistiker schon mit allem durch: Er weiß auf den Tag genau, wann was bei ihm ankommen, wo er es lagern und wohin er es weiterverschiffen wird. Nur ein kaputter Kran kann die Maschinerie noch stoppen. Ein Erkundungstrupp hat jedes einzelne Teil erfasst und einer der 3714 Materialplanungsnummern zugeordnet. Dann wurde entschieden, was in Faisabad bleibt oder im Land verkauft wird. Der Rest muss zurück nach Deutschland, 450 Container und 112 Fahrzeuge.
Das kleine bisschen Luxus ist zuerst verschwunden. Alles, was das Leben in diesem vom Krieg verheerten Land ein wenig angenehmer machte, wurde gleich zu Beginn ausgeflogen: Die Küchencontainer aus Edelstahl sind weg, Wurst, Käse, Brötchen gibt es seit Wochen nicht mehr, jetzt wird in einer Feldküche "Einsatzgruppenverpflegung" mit Wasser zubereitet. Zum Schluss lässt der Koch Epas verteilen - Einmannpackungen, kleine Pappschachteln mit haltbarer Kost. In der kleinen, bunt ausgeleuchteten "Talibar" wird das letzte Bier ausgeschenkt. Der Ehrenhain für die vier deutschen Gefallenen und einen Tschechen ist bereits abgebaut: viereinhalb Tonnen Steine, durchnummeriert und in Kisten gepackt. Sie sollen in einer deutschen Kaserne wieder aufgebaut werden. Sogar der Maibaum, der mitten im Lager stand, tritt die aufwendige Heimreise an. Auf ihn wartet ein zweites Leben als Ausstellungsstück im Dresdner Militärmuseum, das eigens einen Kurator geschickt hat. Auch die Radiokabine des Bundeswehrsenders, das Taufbecken und die Fahne der Militärseelsorge werden Museumsstücke.
Bei der letzten Andacht schwingt Wehmut mit. Militärpfarrer Jörg Reglinski spricht vom Sternenhimmel und den Berggipfeln ringsherum, dann singt die 40-köpfige Gemeinde in Uniform "Großer Gott, wir loben dich". Zum Abendmahl bilden die Männer einen Kreis um den Betonaltar, dann entwidmet Reglinski das Kreuz, die Kerzenhalter und den Abendmahlskelch. Manchen Soldaten falle es schwer, Abschied zu nehmen, sagt er später. Für sie habe der Einsatz auch positive Erlebnisse gebracht, etwa, dass die Mädchen hier jetzt zur Schule gehen. "Die Männer fragen sich, was sie bewirkt haben und wie sich die Situation hier jetzt verändern wird."
Ein Kran hebt das an Ketten hängende Wellblechdach über einem Generator an. Ein Soldat drückt und schiebt, bis die etwa zehn Quadratmeter große Dachfläche in der Höhe schwebt. "Für diesen Sonnenschutz haben wir 2008 gekämpft", erinnert er sich. Damals konnte sich zu Hause niemand vorstellen, wie sehr die unerträgliche Hitze im Sommer den Stromquellen zusetzt. Ein kleiner Sieg, jetzt wird er abgeräumt. "Ein komisches Gefühl, wenn man so etwas abreißen muss", sagt Hauptmann Rainer Barth, der schon zum vierten Mal hier ist. "Es hat etwa Endgültiges, jetzt kommt keiner mehr."
"Es gibt Soldaten, die mehrmals hier waren, für die ist das eine emotionale Sache", weiß der Kommandeur des Feldlagers, Ralf Blasajewsky. Für ihn nicht. "Für mich ist das ein Auftrag", sagt der schlanke Oberstleutnant. "Es ist die größte Aufgabe meines Lebens bisher, ich werde daran gemessen, ob es klappt." Er ist sich bewusst, dass er Militärgeschichte schreibt - ganz wörtlich. Jeden Schritt des Abzugs notiert er, bis zum letzten Tag. "Dadurch können andere vielleicht Fehler vermeiden."
Wann genau dieser letzte Tag kommen würde, war bis Dienstag das bestgehütete Geheimnis in Faisabad. Die Soldaten sprachen ehrfurchtsvoll vom "D-Day", wie einst die Alliierten bei der Landung in der Normandie. Nur dass dieser Tag 1944 das Ende eines Krieges einläutete. Daran glaubt hier in Afghanistan kaum jemand. Drogenhändler, Islamisten, Tadschiken und Usbeken, teilweise mit Privatarmeen, positionieren sich für die Zeit nach dem Abzug der ausländischen Soldaten. Die Taliban, die in dieser Gegend kaum verankert sind, könnten versuchen, das Machtvakuum zu nutzen. Seit über einem Jahr kontrollieren sie eine wichtige Straße nach Pakistan, knapp 50 Kilometer südöstlich von Faisabad. Nun, da die Deutschen weg sind, werden sie mehr wollen.
Die afghanische Bereitschaftspolizei hat dem wenig entgegenzusetzen. Es fehlt an Munition und Treibstoff. Die ersten Hilfsorganisationen haben sich bereits zurückgezogen, ohne die deutschen Soldaten, ist ihnen die Gegend zu gefährlich. "Wir haben kein Krankenhaus mehr und keine anständige Apotheke", sagt Gerhard Olde, Beauftragter des Entwicklungshilfeministeriums für die Provinz. Noch seien mehr als ein Dutzend deutsche Zivilisten in der Region, aber nicht mehr lange, glaubt der Entwicklungshelfer. Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen, die von westlichen Politikern gefeiert wird, hält er für eine Farce, etwas, "das man erfunden hat, um das Land gesichtswahrend zu verlassen". Er wird die Konsequenz ziehen. Und gehen.
Auch in der Stadt Faisabad, wo vor zehn Jahren kaum ein Auto fuhr, wächst die Skepsis, was vom Fortschritt bleibt, wenn die ausländischen Truppen gehen. Ahmad Reshar sitzt auf einem Plastikstuhl vor seiner Praxis. Seit Monaten verschlechtere sich die Sicherheitslage, sagt der 27-jährige Arzt. "Ohne die deutschen Soldaten wird es wieder Krieg geben."