Nieder mit
Arm und Reich
Bei Amerikanern wie Briten hat das Einkommensgefälle derart desaströse Begleiteffekte, dass es das Ökonomen-Leitmotiv vom segensreichen Leistungsanreiz ad absurdum führt.
Zeit für neue Denkmuster.
von
Thomas Fricke
Fast
30 Jahre galt als Leitmotiv guter Wirtschaftspolitik: Wenn Einkommen auseinanderdriften, ist das zwar unschön,
wirtschaftlich aber gut.
Weil es Anreize schafft, mehr zu
leisten. Nirgendwo ist diese Formel
so konsequent umgesetzt worden wie in den USA und Großbritannien. Nirgendwo scheinen, 30 Jahre nach Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die Zweifel so groß, ob das gut war. Selbst der konservative
David Cameron versprach im jüngsten Wahlkampf mehr Gleichheit im Land.
Mittlerweile deutet einiges darauf hin, dass
große Reichtumsunterschiede
auf Dauer untragbare Kollateralschäden mit sich bringen - für Gesundheit und Lebensstandard. Und dass selbst die Reichen in sozial ungleichen Ländern schlechter leben als in egalitäreren
Gesellschaften. Da müssen womöglich ganze neue Lehrbücher geschrieben werden - und neue Wahlprogramme. Nicht nur in Anglo-Amerika.
Dass eine große Einkommenskluft höhere Kriminalität mit sich bringt, wäre
noch nichts Revolutionäres. Neu ist das Ausmaß der Folgen insgesamt,
wie Richard Wilkinson und Kate Pickett in einem atemberaubenden Vergleich aller möglichen Zeichen für Lebensqualität herausfanden - und in einem Buch beschreiben*, das in Großbritannien Furore macht und das kürzlich auf
Deutsch erschien.
In
den USA, wo das reichste Fünftel der Bevölkerung
achtmal so viel Geld bekommt wie das ärmste, ist die Zahl der Teenager-Schwangerschaften fast zehnmal so
hoch wie in Japan oder Schweden, wo die Topreichen nur drei- bis
viermal so viel Einkommen haben. Amerikaner und Briten leben im Schnitt
kürzer, ebenso wie Portugiesen, Australier oder Neuseeländer, die auch sehr starke Einkommensgefälle
haben.
In
ungleichen Gesellschaften gibt es tendenziell
mehr Fettleibige und psychisch Kranke. Da sterben bei der
Geburt mehr Säuglinge. Es gibt mehr Schulabbrecher. Und das Vertrauen in andere Menschen ist Umfragen
zufolge schwach. In den USA
finden nur noch 35 Prozent, dass man anderen Menschen in der Regel trauen kann;
in Norwegen oder Schweden sagen das zwei Drittel der
Leute.
Die
Regel mag nicht für jedes
Land bei jedem Indikator exakt treffen. Nur: Fasst
man alles in einem Index zusammen, wie es
Pickett und Wilkinson machten, ergibt
sich eine bestechende Korrelation. Unter den ausgewerteten Industrieländern haben die USA
das absolut höchste Einkommensgefälle - und in der Summe die schlimmsten sozialen und gesundheitlichen Probleme. Umgekehrt bieten Konsensländer beste Lebensbedingungen
Teil 2: Reiche in sozial
ungleichen Ländern leben kürzer und sind öfter krank
als Reiche anderswo
Das
Phänomen ist nicht damit (weg-)zuerklären, dass Armut halt viele Probleme mit sich
bringt. Nach Auswertung von Pickett und Wilkinson leben
selbst die Reicheren in sozial ungleichen Ländern kürzer und sind öfter krank
als Reiche anderswo. Ihre Kinder sterben häufiger bei der Geburt.
Das muss etwas mit landesweiter Ungleichheit zu tun haben.
Ein Grund sei, so die Autoren, dass es in ungleichen
Gesellschaften viel schwieriger sei, Anerkennung zu bekommen, die Menschen für ihr psychisches
Gleichgewicht brauchen -
was von Ökonomen irrigerweise
als Leistungsanreiz idealisiert wird.
Politisch relevant ist, dass
die negativen Folgen selbst den Vorteil hoher Pro-Kopf-Einkommen wettzumachen scheinen. Immerhin sind die
Amerikaner im Schnitt reicher als andere, haben
aber trotzdem mehr Probleme. Das ist teuer. Kein
Land muss so viel Geld mobilisieren, um seine Krankheiten
zu kurieren. Zudem sind Menschen
in egalitäreren Ländern offenbar innovativer. Pro Kopf wird in nordischen Ländern an Patenten
ein Vielfaches von dem angemeldet, was die USA verzeichnen, wo mangels Sozialvertrauens auch die Bereitschaft geringer ist, etwas
für das Allgemeingut Umwelt zu tun
- die Recyclingquote ist in
Skandinavien ebenfalls höher.
All
das ist ein grotesk hoher Preis
für angeblich bessere Leistungsanreize. Manche US-Staaten geben heute mehr
für Gefängnisse als für Bildung
aus. Und es eröffnet eine ganz
neue wirtschaftspolitische Perspektive. In den USA und Großbritannien
fordern Ökonomen schon wieder höhere
Spitzensteuern und eine
progressive Besteuerung - um Einkommensgefälle
abzubauen. Das ist ja kein Muss. Immerhin
schnitten die Amerikaner sozial und gesundheitlich schon mal besser ab als die Japaner.
Das hat sich erst mit Amerikas Auseinanderdriften
seit Reagans Zeiten eindrucksvoll umgekehrt.
Wenn Billigjobs
Lebenszeit kosten
In
Deutschland verdient das reichste
Fünftel fünfmal so viel wie das ärmste.
Das ist weniger als in den USA, aber schon viel mehr
als in gesünderen Vorbildländern. Grund genug, wirtschaftspolitische Maßnahmen künftig darauf zu prüfen,
ob sie das Gefälle erhöhen und nicht mehr Schaden bringen
als Nutzen. Dann erscheint auch ökonomisch fraglich, ob es - im wahren
Sinne - gesund wäre, noch mehr
Niedriglohnjobs zu schaffen: wenn so zwar der ein
oder andere Job geschaffen wird, dafür aber die Lebenserwartung sinkt, mehr Säuglinge sterben und bald nur noch psychische Problemfälle durchs Land laufen. Da könnte es per saldo lohnen,
das Geld in bessere Jobs zu
stecken.
Nach altem Dogma galt: Wichtig sind gleiche
Startchancen - egal, bei welch unterschiedlichen
Einkommen das endet. Mittlerweile drängt sich der Leitspruch
auf, dass das Ergebnis stimmen muss - egal, welche Startchancen es gibt. Dafür
gebe es immerhin
nicht nur ein Rezept, so Pickett. Nordeuropas Umverteiler stehen gesundheitssozial ebenso gut da wie Japan, wo von vornherein eher gleiche Einkommen
erzielt werden. Da ist offenbar Platz
für nationale Präferenzen.
*"The
Spirit Level: Why More Equal Societies Almost Always Do Better",
Wilkinson/Pickett, 2009