Verkehrtes Staatsvertrauen
Thomas
Fricke
Was mussten wir uns
nicht alles von unseren Freunden jenseits von Kanal und großem Teich anhören:
dass wir in Deutschland dem schrecklichen Glauben anhängen, der Staat könne
helfen; und dass wir doch einfach
nur gucken müssen, wie Amerikaner
und Briten mit viel niedrigeren Staatsquoten und Schulden brillieren.
Aus, vorbei. Seit Ausbruch der
Gigafinanzkrise kursiert bei unseren Freunden
nicht nur der ein oder
andere Zweifel an den heilsamen Kräften des Marktes. Bei näherem
Hinsehen scheint das ganze Klischee allmählich bearbeitungsbedürftig,
wonach Amerikaner und Briten weniger am Staat hängen und seltener nach ihm
rufen als wir. Vielleicht rufen sie nur
anders. Die Frage ist dann, wer
besser brüllt. Jedenfalls ist manche Staatsquote bei uns mittlerweile
niedriger als bei denen, nicht
höher.
Der Ruf, Banken
manches Geschäft zu verbieten, kommt
vom Präsidenten der USA - und einem früheren US-Notenbankchef. Amerikas Staatsmacht ist gerade bei
Banken eingestiegen, hat parastaatliche Immobilienfinanzierer
unter Obhut gestellt, die Mehrheit am weltgrößten Versicherer AIG übernommen, Autokonzernchefs zu sich zitiert,
um ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Sie
hat Arbeitslosen mehr Geld zugeteilt und Konjunkturpakete lanciert, die Angela Merkel wie eine schwäbische Hausfrau aussehen lassen.
Jetzt könnte man sagen,
das war Notwehr, eine Jahrhundertkrise.
Nur ändert das ja nichts am Ergebnis.
Und es könnte auch lediglich heißen, dass es
für Amerika lange Zeit nicht so viel Grund gab, nach Hilfe zu
rufen. Das kann sich ändern. Als
Großbritannien 1992 kriselte,
intervenierte die Regierung
so, dass das strukturelle Staatsdefizit fast sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) erreichte. So etwas hatte Deutschland selbst nach der
Einheit nicht. Ähnliches gab es
in den USA bei jeder Rezession.
Dazu kommt ein
tief gehender Trend zurück zum Staat
- und der hat nicht nur mit dem
ein oder
anderen militärischen Abenteuer zu tun.
Während in Deutschland heute
weniger Staatsbedienstete arbeiten als vor
der Wende allein im Westen,
stieg die Zahl bei den stark unterversorgten Briten um Millionen. Mittlerweile verdienen öffentlich Beschäftigte auf der Insel im
Schnitt mehr als Leute in der
Privatwirtschaft. Kaum zu glauben. Bei
Briten wie Amerikanern arbeitet ein höherer Anteil
Menschen beim Staat als bei
uns. George W. Bush trug derweil
mit seiner Reform der Krankenversicherung für Rentner dazu bei,
dass allein dieser Posten heute
1,5 Prozent des BIPs mehr in Anspruch nimmt als noch
im Jahr 2000.
Die Krise
hat all das dramatisch beschleunigt.
Weil sich Amerikas Arbeitslosenquote verdoppelt hat,
sind auch die staatlichen Transfers hochgeschnellt
- von weniger als zehn Prozent 2000 auf jetzt fast 15 Prozent des BIPs. Das ist ein
Drittel mehr als zu den Zeiten,
als Ronald Reagan antrat,
den angeblich wuchernden Staat zu bekämpfen.
In Großbritannien findet jetzt sage und schreibe 53 Prozent der Wirtschaftsleistung
in staatlichen Einrichtungen
statt - gegenüber 48 Prozent in Deutschland. In den USA liegt
die Staatsquote zwar noch niedriger. Vor zehn Jahren
lag der Abstand zu uns aber
noch bei fast 15 Prozentpunkten. Jetzt sind es nur
noch halb so viel. Nach OECD-Schätzung konsumieren Amerikas Behörden de facto mehr Geld als alle
16 Euro-Staaten.
Manche Relationen kehren sich nun um. Das Defizit im Etat
ist bei Briten
und Amerikanern doppelt so hoch wie bei
uns. Eine Zeitenwende: Nach den USA überholt jetzt auch Großbritannien
die Deutschen beim Gesamtschuldenstand. Die USA stehen
vor viel größeren Problemen als wir, sagt
Klaus Deutsch, US-Experte bei
Deutsche Bank Research. Laut Brüsseler
Kommission ist die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen in Großbritannien stärker gefährdet als in fast allen anderen EU-Staaten. Um die Lücke zu füllen,
müsste die Regierung zwölf Prozent des BIPs aufbringen - dreimal so viel wie Deutschland.
Von wegen
Staatsgläubigkeit. Deutsche Politiker
gehen mit dem Versprechen sinkender Staatsschulden auf Stimmenjagd und dringen kurz vor der
Bundestagswahl auf eine Schuldenbremse. In den USA fehlte
nach OECD-Befund bisher jegliche Festschreibung auf den Abbau der Defizite - wobei fraglich ist, ob das aus Einsicht in den erfahrungsgemäß geringen Nutzen brachial-rechtlicher Defizitvorschriften
so ist. In Deutschland könnte
die Schuldenquote in ein paar Jahren wieder
zu sinken beginnen; für die USA sehen offizielle Schätzer bis
2019 nur steigende Niveaus. Apropos. In den USA ist
die Kritik an allzu naiver Marktgläubigkeit derzeit gang und gäbe. In
Deutschland ereifern sich vermeintliche Wirtschaftsweise trotz einer historischen
Marktkrise lieber darüber, was der Staat alles falsch
macht.
Weg mit dem
Klischee. Die Frage ist, was am Ende
mehr taugt. Und das ist gar nicht klar.
Dänen und Schweden zeigen seit Jahren,
dass man auch mit hoher Staatsquote
Erfolg haben kann, wenn man das Geld richtig ausgibt. Gut möglich, dass die USA den Staat doch genutzt
haben, um nach der Krise allein
zu wachsen und den Staatsapparat wieder abzubauen. Bis
dahin dürfen Sie unsere Freunde
aber gern bremsen, wenn die wieder anfangen, über unseren furchtbaren
Hang zum Staat zu klagen.