Wahrheit verjährt nicht
von Kathrin Werner
15.07.2009
Der Prozess gegen
den mutmaßlichen KZ-Aufseher
John Demjanjuk ist
eine Chance für den deutschen Rechtsstaat. Er kann seinen
Bürgern beweisen, dass er auch
altes Unrecht aufarbeitet.
Die Verbrechen
liegen mehr als 65 Jahre
zurück, der Täter geht auf die 90 zu: Die Münchner Staatsanwaltschaft hat endlich
den mutmaßlichen KZ-Aufseher
John Demjanjuk angeklagt - wegen Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen. Es wird
einer der letzten großen Naziprozesse sein.
Beinahe wäre es
zu spät gewesen.
Die Frage, ob und wie man uralte Holocaustverbrecher wie Demjanjuk verurteilen
soll, drohte sich angesichts des hohen Alters von selbst zu erledigen. Damit
hätte der deutsche Rechtsstaat eine große Chance vergeben: die
Chance, Unrecht aufzuarbeiten,
Schuld festzustellen
und zu bestrafen. Die
Chance auf Wahrheit. Die Chance, sich
selbst zu beweisen.
Dass die Münchner Staatsanwaltschaft nach all den Jahren diese Chance ergreift, verdient uneingeschränktes Lob. Sie beendet damit auch
die unsägliche Schlussstrichdiskussion
- man solle doch einen Tattergreis, der seit Jahrzehnten
im US-Bundesstaat Ohio als braver Bürger
lebt, einfach in Ruhe lassen. Schlussstrich
drunter, lang
ist's her. Doch Mord und Beihilfe
zum Mord verjähren nicht. Eine Altersgrenze für die Ahndung von Verbrechen gibt es ebenso wenig.
Es
gibt keine Gleichheit im Unrecht
Demjanjuk solle für
ein Verbrechen bestraft werden, mit dem viele
andere davongekommen sind, beklagen
manche. Der gebürtige Ukrainer ist der erste KZ-Wächter vor einem deutschen
Gericht, der nicht aus Deutschland stammt. An sie
hat sich die Justiz lange nicht herangetraut.
Dass die Gerichte in der Nachkriegszeit so zögerlich waren, ist aber
kein Grund, diesen Fehler nun fortzusetzen. Es gibt
kein Recht auf Gleichheit im Unrecht.
Der Dienstausweis von Iwan "John" Demjanjuk,
den er als
"Wachmann" 1942 in seinem
Ausbildungslager Trawniki bekommen hat.
Der Dienstausweis von Iwan
"John" Demjanjuk, den er
als "Wachmann" 1942 in seinem Ausbildungslager Trawniki bekommen hat.
Mord
verjährt nach deutschem Recht nicht. Das klingt formalistisch - zumal es unwahrscheinlich
ist, dass
Demjanjuk eine Strafe tatsächlich antreten wird. Er ist zwar als verhandlungsfähig eingestuft worden. Gesund genug, um ins Gefängnis zu
kommen, ist er deshalb lange
nicht. Der Strafvollzug selbst ist aber
nicht entscheidend. Es geht um das Urteil.
Und das hat auch sechs Jahrzehnte nach den NS-Gräueltaten noch einen Zweck.
Die meisten
Gründe für eine Strafe greifen bei Demjanjuk nicht:
Resozialisierung kann nicht das Motiv sein - er ist bereits resozialisiert. Von ihm
geht auch keine weitere Gefahr
aus. Es geht
nicht darum, andere potenzielle Massenmörder abzuschrecken.
Bliebe
also nur noch die Rache - bei der
Grausamkeit, die Demjanjuk vorgeworfen wird, ein höchst menschliches
Bedürfnis. Bei Rache
geht es aber
um Moral, nicht um Recht.
Sie hat in einem Strafprozess nichts zu suchen.
Der wahre Zweck
der Anklage ist ein anderer: Der Rechtsstaat
muss seinen Bürgern beweisen, dass er Verbote durchsetzt
und gerechte Strafen verhängt. Die Botschaft richtet sich an
die Menschen. Dafür muss Demjanjuk nicht zwingend viele Jahre ins Gefängnis.
Das Urteil selbst ist aber
wichtig, damit die Bürger darauf vertrauen
können, dass der Rechtsstaat sich die Mühe macht,
für Gerechtigkeit zu sorgen. Und damit die Wahrheit ans Licht kommt.
Das wird viel Mühe
kosten im Fall Demjanjuk. Da sind zunächst tatsächliche Schwierigkeiten, belastbare Beweise zu finden:
Die meisten Zeugen sind tot, der Angeklagte
selbst wird voraussichtlich schweigen. Aussagen bereits Verstorbener widersprechen einander, bei vielen
Dokumenten, die die Schuld belegen sollen, ist
umstritten, ob sie echt sind. Demjanjuk
einzelner Morde zu überführen ist kaum möglich. Die Staatsanwälte müssen ihm zumindest
nachweisen, dass er Aufseher im
Vernichtungslager Sobibor
war. Jeder, der dort eingesetzt
wurde, war nach aktuellem Stand der Geschichtsforschung Teil der Tötungsmaschinerie - und erfüllt den Tatbestand der Mordbeihilfe. Doch schon dieser Nachweis
wird schwierig.
Demjanjuk
war in einer Zwangslage
Ein weiteres Hindernis bei der
Bestrafung Demjanjuks ist die Zwangslage,
in der sich der damals junge
Mann wohl befand. Letztlich haben ihn erst die Nazis und die besonderen Umstände der Zeit zum Täter
gemacht. Hätte er sich von den Nazis nicht im Ausbildungslager
Trawniki als KZ-Wächter anlernen lassen, wäre er
unter Umständen verhungert, erfroren oder an einer der
Seuchen gestorben, die in dem Gefangenlager grassierten, in dem er damals inhaftiert
war.
Außerdem werden seine Anwälte sich auf einen Putativnotstand berufen: Sie werden
behaupten, dass Demjanjuk nur mordete
aus der Furcht,
die Deutschen würden ihn töten, wenn
er ihren Befehl verweigerte. Allerdings hätte Demjanjuk fliehen können, wie es andere
Trawnikis taten. Wäre er gefasst
worden, hätten ihn die Nazis wohl nicht getötet. Demjanjuk hätte das wissen können: Er ist selbst einmal kurz
geflohen und bekam dafür nach seiner Rückkehr die vergleichsweise milde Strafe von einigen Stockschlägen.
Es wird nicht leicht,
Demjanjuk zu verurteilen.
Seine Taten und Motive, der
Umgang mit Verbrechern unter Zwang - all das muss das Gericht klären. Aber die Opfer und ihre
Angehörigen haben einen Anspruch auf ein Urteil. Und
die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass der
Rechtsstaat keine Mühen scheut, für
Gerechtigkeit zu sorgen. Denn erst der Versuch,
die Wahrheit zu finden, koste es,
was es wolle, macht ihn zum
Rechtsstaat. Und die Wahrheit verjährt nicht.