Von der Vernunft zur blanken Panik

 

von Nicholas Adjouri

 

Die Finanzakteure und die US-Regierung haben einen gefährlichen Brandbeschleuniger für die Krise unterschätzt: Die Psychologie. Die Angst wird zum Massenphänomen, das uns kollektiv in Atem hält.

 

Nicholas Adjouri ist Geschäftsführer von Adjouri Brand Consultants.

 

Stellen Sie sich vor, Sie würden morgen aufwachen, und es gäbe keine Finanzkrise mehr. Alles, was wir über Panik an den Finanzmärkten, Konkurse, Produktionsstopps, Massenentlassungen und Rettungspakete in den vergangenen Monaten gelesen haben, wäre verschwunden, vorbei, ausgelöscht - einfach so, als wäre nichts gewesen. Was hier nach Utopie oder irrationalen Ideen klingt, ist gar nicht so abwegig. Denn diese Vorstellung könnte man auch in einer einzigen Frage zusammenfassen: Was wäre, wenn die Finanzkrise gar nicht echt ist, sondern nur herbeigeredet?

 

Was hier überspitzt und irreal formuliert wird, hat durchaus einen realen Kern. Schließlich beruht der Strudel nach unten, in dem wir uns derzeit befinden, zu einem großen Teil auf unseren Einstellungen. Und diese funktionieren nicht immer so, wie es uns gefällt, sondern sind zu einem erheblichen Teil irrational.

 

Zurück zu den Fakten: Natürlich haben wir derzeit eine schwere Krise an den internationalen Finanzmärkten. Fest steht auch, dass sich die aktuellen Verwerfungen in der Finanz- und Realwirtschaft mit der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre messen können. Doch spätestens seit dem Wirtschaftsnobelpreis für Daniel Kahnemans Arbeiten zum Thema "Behavioral Economics" wissen wir, dass jeder Mensch - und insbesondere auch der Finanzprofi - seine Entscheidungen nicht auf rationaler Basis, sondern auf irrationalen Prinzipien aufbaut. Vorher galt der Grundsatz, dass wir uns ausschließlich auf der Basis nutzenorientierter Fakten entscheiden. Sinnbild dessen war der sogenannte Homo oeconomicus, also der vernunftorientierte Mensch, der alle Vor- und Nachteile abwägt und sich dann für das vermeintlich Richtige entscheidet, um seinen Gewinn zu maximieren.

 

Dies ist die Theorie, die in den vergangenen Jahrzehnten dominierte und die erst langsam, aber zu Recht verdrängt wird. Denn das Gegenteil ist richtig: Neueste Erkenntnisse der kognitiven Psychologie zeigen uns, dass wir die meisten Entscheidungen auf irrationaler Basis treffen. Wir lassen uns öfter durch unsere Gefühle verleiten, als uns lieb ist.

 

Zahlen als Wohlfühlkorsett

 

Das Problematische daran ist, dass wir dies nicht richtig wahrhaben wollen. Wer gibt schon gern zu, dass er sich von irrationalen Faktoren leiten lässt? Insbesondere in der Finanzbranche ist dies schwer zu akzeptieren. Die Finanzwelt ist voll von Analysen, Charts, Kurven, Daten und Powerpoint-Folien, die gerade verdeutlichen sollen, dass nur die reine Vernunft in Form von Zahlen und Formeln zählt.

 

Diese Finanzmathematik gibt uns ein sicheres Gefühl. Gerade in der aktuellen Krise wird jedoch immer deutlicher, dass dieses Zahlenwerk nur ein psychologisches Wohlfühlkorsett ist. Die Folge ist, dass wir uns von der allgemeinen Panik angesichts von Horrornachrichten über Bankenverstaatlichungen, Unternehmenspleiten und Konjunkturabstürzen anstecken lassen.

 

Vernichtetes Vertrauen

 

Diese Angst ist nicht unbedingt individuell identifizierbar. Sie ist eher ein Massenphänomen, das uns kollektiv in Atem hält, einen gewaltigen Vertrauensverlust nach sich zieht und auf diese Weise dazu beiträgt, dass ein Markt kollabiert.

 

Wie kann Vertrauen wiederhergestellt werden? Oder anders gefragt: Was kostet Vertrauen? Wer schon einmal schwer enttäuscht wurde, weiß, wie lange es dauert, neues Vertrauen aufzubauen. Auf den Finanzmärkten ist dies nicht anders, denn wir sind kollektiv nachtragend. Das gilt umso mehr nach dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers im September, den Finanzminister Peer Steinbrück im Rückblick als "Wasserscheide" in dieser Krise bezeichnet.

 

Die 1850 gegründete Bank galt als ein Urgestein der Branche; sie war eine Marke, die nicht nur über eine gute Bonität verfügte, sondern über etwas, das eine noch größere Bedeutung hat: ein unermessliches Vertrauenspotenzial. Keiner, nicht einmal die größten Insider, konnte und wollte sich vorstellen, dass dieser Spieler einmal vom Markt verschwinden könnte.

 

Doch die Finanzwelt ist inzwischen so unüberschaubar geworden, dass die Akteure ihre eigenen Regeln nicht mehr verstehen. Zudem unterschätzen sie den Faktor Psychologie in gefährlicher Weise. Tatsächlich sucht der Mensch insbesondere in unüberschaubaren Märkten nach Konstanten und Sicherheiten. In der Wirtschaft und insbesondere in der Finanzbranche sind es die großen Marken, die diese Funktion übernehmen.

 

Mit Lehman Brothers ist eine dieser Konstanten verschwunden. Was auch immer die amerikanische Regierung bewogen hat, die Investmentbank anders als ihren Konkurrenten Bear Stearns oder den Versicherungskonzern AIG nicht zu retten - Fakt ist, dass durch den Fall Lehmans, einer Bank, die eigentlich als zu groß für eine Pleite galt, ein gigantisches Maß an Vertrauen vernichtet wurde und unwiederbringlich verloren ging.

 

Aus der FTD vom 21.02.2009