Thomas Fricke: Die Grenzen der Freiheit

 

von Thomas Fricke

 

Wer Finanzkrisen wirklich lösen will, sollte aufhören, über gierige Leute oder maßlose Amis zu jammern. Der Kern des Seriendramas ist, dass die Finanzwelt mit sich selbst überfordert ist. Das ist eher ein Systemproblem.

 

Deutschland kann sich Oskar Lafontaine derzeit sparen. Über "zügelloses Streben nach Renditen" ereifert sich mindestens so stark der amtierende Bundesfinanzminister, Steuerstreber Peer Steinbrück. Während Unionspolitiker über (verschuldete) Amerikaner herziehen oder über Bankvorstände, die mit ihrem Privatvermögen haftbar gemacht werden sollten. Brüder, zur Sonne.

 

Klar gibt es furchtbare Menschen, die immer mehr Geld haben wollen. Die Frage ist nur, ob das wirklich das Problem ist. Und ob es erklärt, warum es in der Finanzwelt so regelmäßig zu zunehmend gefährlichen Crashs kommt - weniger im Handel mit, sagen wir, Zahnrädern.

 

Das Problem könnte weniger in der Gier liegen, sondern darin, dass Banker und Investoren mit der eigenen Welt heute stark überfordert sind. Eher ein Systemproblem.

 

Mär von der stabilisierenden Spekulation

 

Vor dem Aktiencrash 1987 gab es einen - politisch begrüßten - Run auf Aktien. Vor der Asienkrise 1997/98 fanden es alle klasse, dass man dort riesige Renditen machen kann. Mal war Thailand dran. Mal Argentinien. Dann kam die New Economy: erst Boom, dann Krise. Jetzt sind es Subprime und hingerissene Investmentbanker.

 

Das tägliche Finanzgeschäft mit Ölkontrakten läuft im Prinzip genauso. Ökonomisch ist kaum nachvollziehbar, warum die Kurse im ersten Halbjahr auf 150 $ je Barrel schnellten. So abrupt hat sich weder das Angebot noch die Nachfrage verändert. Ähnliches gilt im Devisengeschäft. Ökonomisch lassen sich weder die Kapriolen des Yen rechtfertigen. Noch lässt sich erklären, warum der Euro prozentual zweistellig aufgewertet hat: weder durch die Außenhandelsbilanz, die ausgeglichen ist, noch durch eine rasant gestiegene Wirtschaftskraft von, sagen wir, Italien. Nach jüngsten Schätzungen der Deutschen Bank liegt der Euro um ein Drittel über dem, was "ökonomisch fair" wäre.

 

Als in den 70ern die große Freiheitswelle auf den Finanzmärkten losging, schworen Milton Friedman und deutsche Sachverständigenräte, dass die Freiheit stabilisierend wirken werde: Bewegt sich eine Währung, Aktie oder Immobilie zu stark in eine Richtung, werde es Leute geben, die wissen, dass der Trend bald kippt, darauf spekulieren und ein Überschießen so verhindern. Am Ende geht es allen prima.

 

Von wegen. Weder wurde Amerikas Immobilienblase frühzeitig durch weitsichtige Anleger niederspekuliert; noch das Überschießen des Euro, der Asien-Run der 90er oder die Auswüchse an der Nasdaq. Selbst wenn Notenbanken zu manchem Kurshöhenflug durch zeitweise billiges Geld beigetragen haben, wie es gerade gern behauptet wird, hätten (der Annahme nach) rationale Investoren das längst durchschauen müssen - und sich auf das Spiel vorausschauend erst gar nicht einlassen dürfen. Dann hätten US-Häuslebauer den Hype früh erkennen und sich heraushalten müssen.

 

All das drängt den Verdacht auf, dass selbst Finanzprofis überfordert sind (eine zugegebenermaßen sehr gut bezahlte Überforderung). Wenn die Kreditkrise eines zeige, dann dass die Beteiligten "nicht verstanden, was da passiert", sagt der belgische Ökonom und Finanzexperte Paul De Grauwe. Das entscheidende Problem bei jeder Blase ist, dass eben keiner weiß, wann es sinnvoll ist, auf die Trendwende zu setzen. Zumal das auch davon abhängt, wie die anderen reagieren.

 

Verhaltensökonomen haben bei Experimenten herausgefunden, dass sich Händler dann gern an einfache Regeln halten - guter Dollar, schlechter Dollar - und im Zweifel den anderen folgen. Schon ist die Blase da.

Für Überforderung spricht, was der Wolfsburger Ökonom Markus Spiwoks herausfand, als er fast 10.000 Gewinnprognosen von Unternehmen auswertete, die Analysten von Morgan Stanley, Goldman Sachs, Lehman Brothers und anderen zwischen 1990 und 2006 aufstellten*. Erstaunlich: Die Vorhersagen wurden schlechter, je näher der Zeitraum lag, den es vorherzusagen galt. Im Schnitt lagen sie um 76 Prozent zu niedrig oder zu hoch. Mehr noch: Die Analysten näherten sich bei ihren Fehleinschätzungen aneinander an, waren also wenigstens einmütig überfordert. Spiwoks' Fazit: Solche Prognosen "können wenig bis nichts zu erfolgreichen Anlageentscheidungen beitragen".

 

Prozyklisch in die Katastrophe

 

Notenbanker nennen das "prozyklisches Verhalten". Bei steigenden Preisen wird auf (weiter) steigende Preise gesetzt, das potenziert sich, wenn es um sekundenschnell realisierbare virtuelle Geschäfte geht, wie sie für die Finanzwelt typisch sind - weniger für Autoverkäufe, Zahnräder und den Rest des Kapitalismus. Die Wende kommt erst, wenn irgendwann genügend Beteiligte Zweifel bekommen, dann aber heftig und mit der Gefahr, dass es ebenso prozyklisch ins Desaster geht. Was in etwa das beschreibt, was mit ein paar armen Häuslebauern angefangen und Wall Street wie US-Wirtschaft gerade an den Abgrund gebracht hat.

 

Wenn die Finanzmärkte ohnehin in Sachen Stabilisierung oft überfordert sind, war es vielleicht gar nicht so toll, auch noch Finanzinnovationen einzuführen, von denen selbst ein Hedge-Fonds-Profi sagt, dass er schon mal aufwache und rätsele, wie sie funktionieren. Nach Studien von Carmen und Vincent Reinhart hat die Häufigkeit von Finanzbonanzas in Schwellenländern zugenommen, je mehr die Finanzmärkte liberalisiert wurden. Oft habe das Wirtschaftswachstum anschließend nachgelassen.

 

Harvard-Ökonom Dani Rodrik zweifelt bereits, ob die Finanzliberalisierung Wohlstand gebracht hat. Vielleicht hat sich die Branche mit den komplizierten Produkten vor allem untereinander beschäftigt. Nur dass die Crashfolgen mittlerweile auch die Restwirtschaft mitziehen.

 

Mit starken Sprüchen über zügellose Manager ist da wenig geholfen. Es gilt, ziemlich strenge Regeln und Instrumente zu entwickeln, die automatisch gegensteuern, wenn wieder einmal alle in eine Richtung laufen. Und die Finanzwelt täte gut daran, ein paar Gänge zurückzuschalten - und ihr Geschäft wieder an die begrenzten menschlichen Fähigkeiten anzupassen.

 

* "Deceptive Unity: Surprising Characteristics of Pre-Tax Corporate Profit Forecasts", Markus Spiwoks, International Research Journal of Finance and Economics (unveröffentlicht)

 

Thomas Fricke ist Chefökonom der FTD. Er schreibt freitags an dieser Stelle. Mehr unter: www.ftd.de/wirtschaftswunder