Thomas Klau: Das Wunder von Washington

von Thomas Klau

Aller Voraussicht nach wird Barack Obama als Kandidat der Demokraten bei der US-Präsidentschaftswahl antreten. Damit markiert der Wahlkampf eine zivilisatorische Zäsur in der Geschichte Amerikas - und der Welt.

Wenn kein Riesenskandal, kein Attentat oder sonstiges Unglück alle Erwartungen über den Haufen wirft, ist Barack Obamas Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei für die Wahl am 4. November gesichert. Schon das ist ein epochaler Schritt: Noch nie in der Geschichte der amerikanischen Demokratie - oder der Demokratie überhaupt - hatte ein schwarzer Kandidat so gute Chancen, von einer weißen Mehrheit zum ersten Mann des Landes gewählt zu werden.

In den USA, wo das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß weiter von alter Schuld und frischen Ressentiments belastet ist, markiert das eine zivilisatorische Zäsur. Doch die Wahlkampfschlacht, die sich in den USA abspielt, verändert nicht nur Amerika.

Es ist derzeit vermutlich in keinem europäischen Land denkbar, dass eine große Partei einen Politiker schwarzafrikanischen Ursprungs zum Spitzenkandidaten kürt. Wir Europäer und speziell wir Deutschen leben diese Tatsache ganz entspannt und unbewusst; es erscheint normal und selbstverständlich, dass die führenden Repräsentanten unseres Landes die Hautfarbe seiner Mehrheit haben. Doch diese Normalität bedeutet gleichzeitig, dass deutsche Bürger mit einer anderen Hautfarbe von bestimmten Ämtern ausgeschlossen bleiben müssen - egal, ob sie einen deutschen Pass haben, in Deutschland geboren sind, Deutsch, Schwäbisch oder Sächsisch sprechen.

Das ist, zu Ende gedacht, Rassismus. Wir leben damit meist unbewusst und undurchdacht, wenn wir nicht zufällig Deutschafrikaner sind. Und genau an dieser Stelle verändert Obamas Erfolg auch uns. Unsere kollektive Unschuld wird spätestens an dem Tag brüchig, an dem Obama die Nominierung der Demokraten in der Tasche hat. Und sie zerbricht vollends, wenn tatsächlich im Januar 2009 eine schwarze Familie ins Weiße Haus einzieht. Der Bewusstseinswandel, der damit einherginge, würde vor Europa nicht haltmachen. Wir würden uns plötzlich Fragen stellen müssen, über die wir noch nie nachgedacht haben. Ja, wie wäre das eigentlich bei uns, mit dem Sohn oder Enkel eines Afrikaners als Kanzlerkandidaten? Die Antwort wäre die Erkenntnis, dass sich auch in Europa viel verändern muss, wenn wir keine Gesellschaft wollen, in der Hautfarbe die Vergabe von Ämtern und Posten mitbestimmt.

Die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten hat Obama schon fast erkämpft - ein erstes Wunder. Denn Hillary Clinton war und ist eine hochintelligente, beschlagene, zähe und mit allen Wassern der Politik gewaschene Kontrahentin. Sie hat hart gekämpft und den Kampf noch nicht aufgegeben. Der Ausgang der Vorwahlen in West Virginia vor zwei Tagen hat bestätigt, dass eine beträchtliche Zahl weißer Wähler mit geringem Einkommen Hillary Clinton bevorzugt und ein Problem damit hat, für Obama zu stimmen. So bekam die Senatorin mehr als doppelt so viele Stimmen wie ihr Konkurrent. Das zweite und größere Wunder wäre deshalb, dass eine Mehrheit der Amerikaner tatsächlich am 4. November für Obama stimmt.

Seit dem Ersten Weltkrieg hat kein Demokrat die US-Präsidentschaft erobert, ohne im weißen, armen West Virginia zu gewinnen: Fakten wie diese sind Clintons letztes Argument. Für viele Wähler ist das Problem mit Obama nicht nur die Hautfarbe. Es ist die Tatsache, dass der Kandidat mit seiner in Eliteschulen geschliffenen Eleganz, mit seiner Distanz zu den hurrapatriotischen, erzreligiösen, waffenvernarrten Traditionen der USA als Mitglied einer Elite wirken kann, die auf den insularischen Teil Amerikas mit Verachtung herabblickt. Es ist das Wissen, dass Obama jahrzehntelang bei einem Pastor zur Kirche ging, dessen Predigten nach den Maßstäben des weißen Amerika linksradikalen Charakter haben. Es ist der Umstand, dass Barack Hussein Obama so heißt und einen Teil seiner Kindheit in einem muslimischen Land in einer muslimischen Familie verbracht hat. Es gibt demokratische Wähler, die vor laufender Kamera erklären, Obama sei ein Muslim und darum nicht wählbar.

Er fühle sich wie ein Kind am Gabentisch, sagte Floyd Brown, der berüchtigte Autor der aggressivsten republikanischen Wahlkampfwerbung der vergangenen Jahrzehnte, kürzlich der Londoner Zeitung "The Times". Seit der Präsidentschaft Jimmy Carters haben die Republikaner es konsequent geschafft, das amerikanische Ethos waffentauglicher, patriotischer Männlichkeit für sich zu reklamieren, selbst dann, wenn der Kandidat wie der jetzige Präsident in Wahrheit die schwächere Verkörperung dieses Idealbilds war. So gelang es den Republikanern, den Vietnamveteranen John Kerry im Wahlkampf gegen den Vietnamdrückeberger George W. Bush 2004 als unmilitärischen Aufschneider zu karikieren. Und in diesem Wahlkampf ist ihr Kandidat John McCain ein echter Kriegsheld, der als Kriegsgefangener jahrelang der Folter der Vietnamesen standgehalten hat.

Versöhnung mit der Geschichte

Obama weiß, welche Flanken er bietet. Vor einiger Zeit hat er begonnen, einen Anstecker mit der amerikanischen Flagge am Revers zu tragen - obwohl er den Flaggenpin erklärtermaßen für ein dubioses Mittel hält, Vaterlandsliebe zu demonstrieren. Die Angriffs- und Angstprojektionsflächen, die er dem konservativen Lager bietet, könnten die Wahlschlacht zu einer der härtesten der vergangenen Jahrzehnte machen.

Es steht damit in den USA noch etwas anderes zur Entscheidung an als lediglich die Wahl zwischen einem Weißen und dem ersten schwarzen Kandidaten. Wenn Obama siegt, wäre das nicht nur ein Schritt zur Versöhnung Amerikas mit seiner von Rassenkonflikten gezeichneten Geschichte. Es wäre das klarstmögliche Signal, dass der von Teilen der Rechten nach dem 11. September 2001 hochgepeitschte, paranoide Hurrapatriotismus mit seinem Gefolge von Folter, Willkürhaft und fahrlässigem Angriffskrieg die politische Lufthoheit verloren hat. Die Welt hat dieses Zeichen nach acht Jahren mit George W. Bush genauso dringend nötig wie die USA.

Thomas Klau ist FTD-Kolumnist. Er leitet die Pariser Vertretung des European Council on Foreign Relations.