Gegenwind für die
Volksherrschaft
Achtzehn Jahre ist es her, dass Francis
Fukuyama sich mit der Prognose vom "Ende der Geschichte" weltweite
Aufmerksamkeit und Berühmtheit verschaffte. "Was wir derzeit erleben, ist
womöglich nicht nur das Ende des Kalten Krieges oder der Abschluss einer
bestimmten Phase der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als
solcher", schrieb der amerikanische Intellektuelle in seinem im
Revolutionsjahr 1989 veröffentlichten Essay. Die Menschheit habe womöglich den
Endpunkt ihrer ideologischen Evolution erreicht, nämlich "die
Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als der endgültigen Regierungsform".
Fukuyama hat sich von seiner Analyse längst
distanziert; nicht wenigen erschienen seine Aussagen schon damals wie flott
formulierter Nonsens. Dennoch genossen sie eine Zeit lang erstaunliche
Resonanz. Die sowjetische Diktatur war im Wettstreit mit den liberalen
Demokratien zu Staub zerfallen, die USA glänzten als Beweis, dass
funktionierende Demokratie mit militärischer Überlegenheit vereinbar ist. Es
schien aus dieser Erfahrung heraus zwingend, dass der Siegeszug des liberalen
Staatssystems nach dem Ostblock auch China, Asien und schließlich selbst Afrika
erneuern werde.
Tempi passati. Heutzutage dominiert nicht
mehr die Hoffnung auf den Triumph der Demokratie, sondern - ganz im Gegenteil -
die Furcht vor einer dauerhaften Renaissance autoritärer Herrschaftsformen. In
Russland wie in China genießen autoritäre Zentralgewalten dank eines starken
Wirtschaftswachstums hohen Rückhalt in der Bevölkerung; in Lateinamerika
beweist der Venezolaner Hugo Chavez, dass der lange Zeit vorherrschende Trend
zu mehr Demokratie in der südlichen Hälfte des Kontinents keineswegs
unumkehrbar ist. Düsterer noch erscheint die Lage in den arabischen Ländern, wo
freie Wahlen fast überall islamische Savonarola-Jünger an die Macht bringen würden,
die demokratische Herrschaft wollen, um puritanischen Terror durchzusetzen.
Im Nachrichtenmagazin "Der
Spiegel", dem Zentralorgan des deutschen Zeitgeists, schrieb Dirk
Kurbjuweit kürzlich in einer Reportage zum jüngsten Chinabesuch der Kanzlerin
einen Absatz, der das Einsamkeitsgefühl der Demokraten aufgreift und mit einer
ketzerischen Frage verknüpft. "Es wird spannend, auf welche Seite sich
künftig das Kapital schlagen wird", so Kurbjuweit. "Bislang war es
aufseiten der Demokratie, weil fast nur demokratische Industriestaaten sich der
Marktwirtschaft verschrieben haben. Das Modell China könnte langfristig eine
Alternative werden. Man vergisst manchmal, dass Demokratie nur die Sache eines
Zeitalters sein könnte und nicht das Ende der Geschichte."
Renaissance des Puritanismus, Renaissance des
Autoritarismus, womöglich Abkoppelung des Prinzips Marktwirtschaft vom Prinzip
Demokratie - das sind Signale, die die Völker heute hören. Und man muss
hinzufügen: Schwächung humanistisch-demokratischer Grundwerte wie der Ächtung
von Folter und Willkürhaft in den USA. Der Wind hat sich gedreht und bläst aus
der falschen Richtung. Der Demokratiediskurs Amerikas hat an Glaubwürdigkeit,
der Europas an Durchschlagkraft verloren - auch deshalb, weil die Europäische
Union mit dem Scheitern ihres Verfassungsprojekts den Eindruck erzeugte, als
sei ihr die Rolle als Vorreiter einer postnationalen demokratischen Ordnung der
Welt nichts wert.
Doch so falsch 1989 die rosigen
Fukuyama-Prognosen waren, so falsch ist es jetzt, demokratiepessimistische
Zukunftsvisionen zu inhalieren. Kein Mensch kann heute verlässlich voraussagen,
wie sich in China die politischen Strukturen und die politische Kultur
entwickeln werden. Erstmals wächst im postimperialen China eine zahlenmäßig
bedeutende Generation von Kindern heran, für die Wohlstand und politische
Stabilität selbstverständlich sind. Mag sein, dass diese künftige
Studentengeneration so wie die heutige primär darauf aus sein wird, ihren
persönlichen Wohlstand zu mehren. Doch Chinas Geschichte macht auch andere
Entwicklungen plausibel. Russland wiederum kann weiter jahrzehntelang in
autoritärer Erstarrung verharren - oder doch noch den Genuss eines
oppositionellen Aufbegehrens entdecken, etwa dann, wenn ein künftiger
Staatspräsident weniger Glück und Geschick aufweist als Amtsinhaber Wladimir
Putin.
Der Rückblick auf die seit dem historischen
Mauerfall vergangenen 18 Jahre zeigt vor allem, wie schnell die Geschichte ihr
Rad dreht, wie rasch Gewissheiten zum Irrtum werden. Tempi passati, sagte meine
Großmutter, die 1897 geboren worden war, die Kaiserreich, Ersten Weltkrieg,
Revolution, Republik, Diktatur, Zweiten Weltkrieg und schließlich wieder
Republik erlebte. Gemessen an den politischen Erschütterungen, die die seit
1860 Geborenen verkraften mussten, sind die Veränderungen der vergangenen 20
Jahre weitgehend belanglos. Im Hang zur perspektivlosen Betrachtung der
Gegenwart wird dies zu oft vergessen.
Bleibt bei alledem gleichwohl die Tatsache,
dass die Anhänger einer freiheitlichen, auf den Respekt humanistischer
Grundwerte gestützten Demokratie derzeit an vielen Fronten zu kämpfen haben -
und dass dabei leider ausgerechnet der große Verbündete USA selbst eine
wesentliche dieser Fronten bildet.
Es wäre genau das falsche Fazit, aus der
jetzigen Blütephase autoritärer Systeme und Denkschulen den Schluss zu ziehen,
dass der Kampf um mehr Demokratie ein Streit auf verlorenem Posten ist. Gerade
weil die liberale Demokratie unter wachsendem Druck steht, müssen ihre Anhänger
die Stimme erheben und zuweilen Härte gegen jene zeigen, die - wie etwa das
autoritäre Regime in China - Grundwerte beiseitewischen oder die wie die
Autokratie in Russland Demokratie als Politinszenierung gestalten. Es ist,
nebenbei gesagt, mehr als schade, dass die heutige SPD-Führung diese schlichte
Einsicht verdrängen will - und mehr als ein Glücksfall, dass im Berliner
Kanzleramt heute Angela Merkel anstelle Gerhard Schröders die außenpolitische
Suppe kocht.
Thomas Klau ist FTD-Kolumnist. Er leitet die Pariser Vertretung
des European Council on Foreign Relations.