Je blasser der Westen,
desto strahlender Putin
Irgendwie hat er doch Recht! Gysi,
Schwarzer, AfD: Im Ukraine-Konflikt wirbt eine merkwürdige
Koalition um Verständnis für die russische Politik. Eine Übersicht
Von
Michael Thumann
19.
März 2014
Was
haben Alice Schwarzer, Gregor Gysi (Die Linke) und Alexander Gauland (AfD) gemeinsam? Sie alle werben
dafür, Russland zu verstehen. In der Debatte um die richtige europäische Antwort auf Russlands Einverleibung der Krim bildet sich
in Deutschland eine seltsame
Koalition heraus, die Russlands Verhalten eigentlich ganz richtig, zumindest aber nachvollziehbar findet. Was sind die Beweggründe, die erste Annexion in Europa seit dem Zweiten
Weltkrieg irgendwie in Ordnung zu finden?
Vorweg: Es gibt viele Deutsche, die sich um die neue Spaltung Europas
große Sorgen machen; die das Ende der 25 guten Jahre
bedauern, die der Kontinent hatte; die sich vor einer
Sanktionsspirale zum Schaden aller fürchten;
die Russland nicht einfach verstehen, sondern kennen und seine Kultur und Sprache lieben. Von ihnen ist nicht die Rede.
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Es
geht um jene, die willentlich an der Gefahr vorbei sehen,
die wegen des russischen Vorgehens für ganz
Europa heraufzieht. Vergangene Woche hat Gregor Gysi im
Bundestag eine Rede gehalten, die dafür steht. Die Gleichsetzung des
Kosovo und der Krim, die
Alice Schwarzer auch wiederholt, verwischt den prinzipiellen Gegensatz dieser Interventionen: Im Fall Kosovo griff die Nato erst nach
langem erfolglosen Ringen im UN-Sicherheitsrat
ein, als Hunderttausende Kosovaren schon auf der Flucht
waren. Niemand annektierte Kosovo.
Russlands Truppen nahmen die Krim ein, als kein
Russe dort an Leib und Leben bedroht war. Moskau rief nicht den Sicherheitsrat an – es schloss die Krim innerhalb von zwei Wochen an. Nicht aus humanitärer Not, sondern aus strategischem
Kalkül.
Schwärmen für ein untergegangenes Russland
Was
tatsächlich aus Gysis Rede troff,
war sein schriller Antiamerikanismus und seine Europa-Verachtung.
Da befindet er sich im
gleichen Boot wie die antieuropäischen Rechten der AfD und der
Rechtsextremisten. Gemeinsam
bilden sie die erste Gruppe derjenigen,
die für mehr Verständnis für Putin werben.
Linkes und rechtes Antiwestlertum ist eine unselige urdeutsche
Tradition, die viele längst
vergessen wähnten. Es lohnt sich, die Tiraden der deutschen
Kommunisten und der Vertreter der sogenannten
konservativen Revolution in den 1920er Jahren neu zu
lesen. Auch damals gab es Russlandversteher,
die das Land kaum kannten, aber gegen den Westen anpriesen.
Eine zweite Gruppe sind die Russlandschwärmer, die ein nicht mehr existentes
Russland lieben: eine nicht-kapitalistische, langsame, unverdorbene Welt, mit einer Echtheit
und Tiefe, die nur in Sibirien oder in der stundenlangen Liturgie der orthodoxen
Kirche wirklich zu spüren ist.
Gerhard Schröder schien auf
seinen ersten Russland-Besuchen ein wenig davon ergriffen
zu sein, als er mit
Putin in der Moskauer Erlöserkathedrale stand. Auch das
ist eine deutsche
Tradition, die auf die Romantik des 19. Jahrhunderts und die Zivilisationskritik
im 20. Jahrhundert zurückgeht. Das passt natürlich nicht zu Schröder, aber
er entdeckte dann ja schnell
den russischen Kapitalismus,
der ihm auch
gut gefiel.
Eine dritte Gruppe bilden Vertreter
der deutschen Elite, die
mal USA-Fans waren. Die disappointed transatlanticists (enttäuschte Transatlantiker) haben den Kalten Krieg meist in voller Länge erlebt.
Sie sind Realpolitiker, die heute sagen: Vielleicht ist es gar nicht
so schlecht, Russland zu haben, um die USA in Schach zu halten,
denn die Amerikaner haben uns mit
Interventionen im Irak und anderswo schwer enttäuscht. Aus dieser Ecke kommt
oft auch der Aufruf, man solle Russland eine Einflusssphäre gewähren und sich beim Großmachtgespräch mit Moskau über
den Platz der Ukraine in Europa einigen.
Gegen deutsche Verantwortungspolitik
Die
vierte Gruppe sind jene, die die Erweiterungen der EU im Osten
nie verstanden haben. Sie fanden
schon die Aufnahme Polens falsch, Rumänien dann völlig
unpassend. Türkei und
Ukraine? Geht gar nicht!
Oft sind es dieselben Stimmen, die besondere außenpolitische Aktivitäten Deutschlands ungern sehen. Keine
Afrikaprogramme, keine Friedenseinsätze. Nur Handel, kein Handeln. Die neue Verantwortungspolitik, die Außenminister Frank-Walter Steinmeier
und Präsident Joachim Gauck
verfolgen wollen, kommt bei ihnen
nicht gut an. Ein antieuropäisches Element spielt bei manchen auch
mit hinein. Warum eigentlich tun wir nicht
mehr für Deutschland, sondern geben Milliarden
nach Brüssel und Griechenland?
Die
Gründe für derlei Denken sind
vielfältig. Aber es darf gefragt
werden, ob nicht wir Journalisten eine Mitschuld haben am Zerrbild des Westens, das Putin heller erscheinen lässt, als er ist.
Haben wir die USA in der Abhöraffäre zu sehr dämonisiert?
Haben wir die EU in der Euro-Krise kaputt geschrieben und nicht gut genug erklärt, was wir eigentlich am Westen und an unserem freien Europa haben? Wer
den Westen gering schätzt, dem kann
auch ein Wladimir Putin zur Lichtfigur werden.