Die Armeen der Allianz müssen Souveränität abgeben

 

Vor dem Gipfel: Die Nato-Staaten haben kein Geld mehr. Doch wenn das Bündnis weiter stark sein will, müssen seine Armeen intensiver kooperieren, kommentiert C. Major.

 

Beim Nato-Einsatz in Libyen 2011 ging es den USA wie Schneewittchen bei den 27 Zwergen, soll ein hoher Angehöriger des US-Militärs gesagt haben – so unterschiedlich waren die militärischen Beiträge. Die "zwergenhaften" Europäer, allen voran Frankreich und Großbritannien, hatten den Krieg zwar angezettelt. Ohne die amerikanischen Beiträge aber hätten sie den Einsatz gar nicht bestreiten können: rund 90 Prozent der Militäraktionen waren nur dank der Unterstützung der USA möglich.

 

Tatsächlich steht es schlecht um die Schlagkraft der Nato. Zwar hat sie nichts von ihren politischen und militärischen Ambitionen verloren: Zwei große und sechs kleine Operationen will sie weltweit führen können. Und ihre Mitglieder, darunter Deutschland, erwarten, dass das Bündnis ihnen auch in Zukunft Sicherheit garantiert. Doch die Realität sieht anders aus: Weil die europäischen Mitgliedsstaaten die Allianz nur mangelhaft ausrüsten, droht sie zur "Zwergentruppe" zu werden.

 

Insbesondere die Europäer bauen ganze Teilbereiche ihrer Armeen ab, weil sie aufgrund der Finanzkrise zum Sparen gezwungen sind: die Niederländer haben keine Panzer mehr, Großbritannien gab über Nacht seine Erdkampfflugzeuge auf, Deutschland stoppt den Kauf von unbemannten Flugzeugen, den sogenannten Drohnen. Nichts spricht dafür, dass sich diese Situation in absehbarer Zeit verbessert. Die Regierungen werden noch lange mit den Folgen der Finanzkrise kämpfen müssen. Zudem schwingt das Pendel derzeit zurück in Richtung Rezession.

 

Die USA fordern mehr Engagement von den Europäern

 

Die USA wollen die geringen Beiträge der Europäer zur gemeinsamen Verteidigung nicht länger akzeptieren: Obwohl sie nur eines von 28 Nato-Mitgliedern sind, zahlen die USA zurzeit 75 Cent von jedem Dollar, den die Nato von ihren Mitgliedern als Beitrag erhält. Nun aber sind sie selber stark von der Finanzkrise betroffen und legen überdies den Schwerpunkt ihrer sicherheitspolitischen Interessen auf Asien.

 

Wie also kann die militärische Handlungsfähigkeit der Nato künftig gewährleistet werden? Smart Defence lautet die Antwort, die Nato-Generalsekretär Rasmussen landauf landab verbreitet: Die Staaten sollen Prioritäten setzen und ihre schrumpfenden Verteidigungsausgaben auf unentbehrliche Fähigkeiten konzentrieren; sie sollen besser zusammenarbeiten, um Kosten zu sparen; und sich im Vertrauen auf eine staatenübergreifende Arbeitsteilung auf bestimmte Aufgaben spezialisieren.

 

Die Ideen klingen überzeugend: wenn Staaten ihre veraltete Ausrüstung abgeben, ihre Ausbildungsstätten zusammenlegen, die Waffensysteme der nächsten Generation gemeinsam anschaffen, warten und nutzen, dann können sie mit weniger Geld trotzdem einsatzfähig bleiben. Einige Beispiele gibt es bereits: Im Baltikum etwa übernehmen Nato-Staaten abwechselnd den Schutz des Luftraums, das sogenannte Air Policing, so dass die baltischen Staaten diese Aufgabe abgeben und Kosten für eine eigene Luftwaffe einsparen konnten.

 

Offiziell sprechen sich alle Staaten für mehr Zusammenarbeit aus. Auf dem Nato-Gipfel am Sonntag in Chicago werden sie ihre Smart-Defence-Projekte vorstellen. Doch mit den bislang bekannten Vorschlägen werden sich die militärischen Probleme der Allianz nicht lösen lassen, und auch die Spareffekte sind begrenzt. Was die Allianz braucht, sind etwa neue Transporthubschrauber, Drohnen und Aufklärungskapazitäten. Hier bieten die Staaten jedoch nur bereits Bestehendes und vermarkten laufende Kooperationen einfach neu.

 

Die neuen Smart-Defence-Projekte betreffenmit wenigen AusnahmenBereiche wie Logistik, Ausbildung und Minenräumung. Doch ist das Sparpotenzial in diesen Bereichen begrenzt. Zudem stopfen die Projekte nicht die schlimmsten Fähigkeitslöcher, die der Libyen-Einsatz offenbart und die Finanzkrise verschlimmert hat. Weitere Sparpotenziale können die Staaten nur erschließen, wenn sie sich in ihrer Sicherheitspolitik in bewusste und organisierte Abhängigkeiten von ihren Partnern begeben.

 

Sorge vor Kontrollverlust

 

Doch diese Abgabe von Souveränität scheuen die Staaten bislang, Schlagkraft hinSparen her. Sie befürchten, dass sie bei zu enger Zusammenarbeit die Kontrolle darüber verlieren, wo und wie ihre Armeen eingesetzt werden. Zudem können sie sich nur schwer auf ein gemeinsames Produkt einigen, weil jedem Staat die eigene, nationale Rüstungsindustrie am nächsten ist. Ferner fürchten sie, dass eine intensivere Arbeitsteilung im Ernstfall zu Problemen führen könnte, weil sie sich nicht auf die Partner verlassen können. Denn wie kann sichergestellt werden, dass ein Einsatz zustande kommt, wenn ein Partner sich nicht beteiligen möchte, seine militärischen Kapazitäten, beispielsweise Flugzeuge, jedoch gebraucht werden? Wie kann sichergestellt werden, dass ein Land nicht im Einsatz allein gelassen wird, weil ein anderes plötzlich seine Truppen abzieht? Wie kann sichergestellt werden, dass sich ein Land nicht auf Kosten der anderen ausruht?

 

Wenngleich die Sorgen berechtigt sind, haben die Staaten keine Wahl, wenn sie die militärischen Verfallserscheinungen der Nato aufhalten wollen. Wenn die Allianz auch weiterhin eine Rolle spielen soll, müssen ihre Mitglieder zum einen die militärischen Ambitionen der Nato an die neuen Realitäten anpassen: Wenn die militärische Schlagkraft sinkt, kann die Allianz nicht mehr so viel leisten. Zum anderen braucht es, um selbst diesen geringeren Ambitionen gerecht zu werden, mehr Zusammenarbeit.

 

Dabei kommt den größeren europäischen "Zwergen" eine besondere Verantwortung zu: Deutschland, Frankreich und Großbritannien müssen ihre Partner in Europa ertüchtigen und mit Beispielen für Smart Defence vorangehen. Das sind die großen Aufgaben für die Zeit nach dem Nato-Gipfel in Chicago.