Das Gerede vom Abzug ist falsch
Nach dem Amoklauf eines US-Soldaten debattiert der Westen wieder
über den Sinn der
Afghanistan-Mission. Doch das ist die falsche Perspektive, kommentiert Carsten Luther.
Von:
Carsten Luther
13.03.2012
Sie ist
wieder da, die Debatte um einen Abzug aus Afghanistan. Ausgelöst hat sie diesmal der
perverse Amoklauf eines US-Soldaten am vergangenen Sonntag. Nicht lange
zurück liegen ähnlich schlimme Auswüchse, Leichenschändungen, Hetzjagden auf Zivilisten und die
versehentliche, aber folgenreiche Verbrennung von
Koran-Exemplaren. Die Diskussion
danach war dieselbe: Kann man angesichts solcher Vorfälle noch in Afghanistan bleiben? Kann man ernsthaft darauf hoffen, dass diese
Mission doch noch ein Erfolg wird?
Oder sollte man nicht endlich das Scheitern der Mission eingestehen und die internationalen Truppen früher als
geplant vom Hindukusch zurückholen?
Der Westen hat diesen Krieg aus eigenen Interessen als Kampf
gegen den Terror begonnen. Dann aber wurde
daraus das Versprechen, die
Afghanen in eine bessere Zukunft zu führen, ihnen
dabei zu helfen, einen Staat
zu bauen, der Sicherheit und Chancen für die Menschen im Land garantieren kann.
Es
ist bei
einem Versprechen geblieben, der Westen ist grandios
an ihm gescheitert. Zum einen, weil er viele
militärische und organisatorische
Fehler gemacht hat, vor allem aber,
weil von Anfang an die Perspektive nicht stimmte. Nie ging
es nämlich darum, wie Afghanistan bestmöglich geholfen werden könnte, sondern darum, was der Westen für
Afghanistan zu leisten bereit ist
– und was nicht. Entsprechend halbherzig
wurde der zivile Wiederaufbau vorangetrieben, entsprechend einseitig wurde auf das Erstarken der Taliban Mitte des Jahrzehnts reagiert.
Die
Afghanen müssen entscheiden, nicht wir
Stets
waren es unsere Vorstellungen und unsere Ressourcen, die den Einsatz in Afghanistan bestimmten,
stets war es unsere Perspektive. So auch
jetzt, nach dem Amoklauf des US-Soldaten.
Richtig wäre stattdessen zu fragen, ob uns die Afghanen noch wollen.
Welche Vorstellung haben sie von der Zukunft
ihres Landes? Wann wollen sie ihr
Schicksal selbst in die
Hand nehmen? Und glauben
sie, dass sie dies ab 2014, dem Zeitpunkt des internationalen Abzugs, schon können?
Gerade die Reaktion
des afghanischen Präsidenten
Hamid Karsai auf den Amoklauf zeigt: Diese Fragen bleiben
vorerst ungeklärt. Auf der einen Seite
nutzt er nahezu jeden Fehler,
jede Wahnsinnigkeit, die dieser Krieg produziert, um vor allem den Einsatz
der USA als
ungewollte Besatzung zu diskreditieren.
Karsai heizt damit nach innen
eine Stimmung im Land an, die den internationalen
Truppen alles, was über die Kampfhandlungen gegen Extremisten hinausgeht, so unendlich schwermacht, dass manchmal in der Tat alles verloren scheint. So schwächt er aus taktischen
Gründen die moderaten Kräfte in seinem Land – und spielt jenen in die Hände, die einen funktionierenden Staat weiterhin mit Anschlägen
verhindern wollen und damit einen Ausblick
auf das mögliche Chaos nach
dem Abzug geben.
Auf
der anderen Seite weiß er
genau, auch weil sein
persönliches Schicksal damit untrennbar verbunden ist: Ohne die Amerikaner wird es vorerst
nicht gehen. Deshalb verhandelt Karsai mit den USA über eine strategische
Partnerschaft nach 2014,
die vielleicht auch eine Stationierung von Soldaten nach dem
Ende des Kampfeinsatzes ermöglichen könnte.
Karsai muss sagen,
was er will
Und
das ist der
eigentliche Punkt, auf den
man in diesen Tagen schauen muss. Der Westen kann nur
in Afghanistan bleiben, wie
lange auch
immer, wenn die Afghanen es wollen.
Wenn zumindest eine Mehrheit der
Menschen dort
es will. Erst wenn bei uns
– und in der afghanischen Führung – die Erkenntnis
wächst, dass es vor allem
auf die Afghanen selbst ankommt, können beide Seiten zusammen
an Lösungen für alle drängenden Probleme arbeiten.
Der Westen müsste dazu seine ehrgeizig-optimistischen Ziele
auf ein realistisches Maß reduzieren und sich geduldig zeigen.
Die Afghanen müssten sich eingestehen, dass sie Hilfe
weiterhin brauchen und dies
auch selbstbewusst sagen – nach innen
wie nach außen. Karsais doppelzüngige Gratwanderungen
belasten diesen Prozess ebenso sehr wie verkohlte
Koranseiten und außer Kontrolle geratene Soldaten. Karsai muss sagen,
was er will.
Ja, die Diskussion um einen Abzug muss geführt werden. Aber sie darf
nicht allein die Kriegsmüdigkeit des Westens als Hintergrund
haben.