Polizei hält das multikulturelle Amerika zusammen

 

In New Orleans werden jedes Jahr Dutzende Menschen umgebracht. Durch die Null-Toleranz-Politik aber sind viele Städte der USA für Weiße wieder bewohnbar geworden.

 

Von: Eva Schweitzer

 

29.9.2011

 

Helen Hill war eine linke Filmemacherin. Sie lebte in New Orleans, mit ihrem Mann Paul, einem Arzt, der sich den Armen verpflichtet fühlte. Sie wurde von einem Einbrecher ermordet, den sie frühmorgens überraschte. Paul, der das gemeinsame Baby im Arm trug, überlebte nur knapp.

 

In New Orleans werden jedes Jahr mehr als hundert Menschen umgebracht. Die meisten sind allerdings junge schwarze Männer, die in Bandenkriegen sterben. Aber erst die Gewalttat an Helen Hill brachte die Stadt in Rage. Tausende demonstrierten für mehr Polizei. Denn dieser Mord verletzte die ungeschriebenen Regeln Amerikas. Helen und Paul lebten in einer schwarzen Nachbarschaft, ihr Mörder war auch schwarz. Sie waren das einzige weiße Paar.

 

Dass dieser Mord Schlagzeilen machte, liegt aber auch daran, dass er eine Ausnahme geworden ist. Amerika ist heute nämlich relativ sicher. Die Mordrate ist in vielen Städten in den letzten Jahrzehnten um bis zu zwei Drittel zurückgegangen. Allein in New York sank die Zahl der Morde von über 2.000 im Jahr 1990 auf derzeit rund 500. Und davon wurden um die 90 Prozent in der Familie oder unter Bekannten begangen. Morde an Fremden auf der Straße oder in der U-Bahn sind in New York heute extrem selten. Und auch US-weit sind das Gros der Verbrechensopfer entweder schwarze und hispanische Gangmitglieder, die einander erschießen, oder schwarze und hispanische Kinder, die von ihren Vätern umgebracht werden.

 

Mit dem Rückgang der Verbrechenszahlen funktioniert auch die multikulturelle Gesellschaft in Amerika sehr viel besser als in den sechziger und siebziger Jahren. Es gibt zwar eine (marginale) Feindseligkeit gegen Moslems, aber das liegt an den Kriegen im Mittleren Osten. Moslems in den USA sind in der Regel gut integriert und beruflich erfolgreich. Und auch die gelegentlich beklagten hispanischen Parallelgesellschaften dürften eine vorübergehende Erscheinung sein.

 

Amerika hat eine ähnliche demographische Zusammensetzung wie Europa: Eine weiße Mehrheit, eine dunkelhäutigere Minderheit (diese ist etwas größer als in Europa). Aber während diese Minderheit in Europa aus Zuwanderern besteht, ist das in den USA umgekehrt. Hier ist die Einwandererhierarchie auf den Kopf gestellt. Die Immigranten, die heute im Großen und Ganzen das Land regieren und von denen das Gros zwischen 1880 und 1924 einwanderte, sind weiße Europäer. Wer hingegen dunkelhäutig ist, zählt zumeist zur indigenen Bevölkerung oder ist ein Nachfahre schwarzer Sklaven, die vor 1807, vor dem Verbot des Sklavenhandels, kamen.

 

Und so empfinden sich weiße Amerikaner selbst dann, wenn sie in Europa geboren wurden, als die "richtigen" Amerikaner. Hingegen sind viele junge afroamerikanische Männer, obwohl ihre Vorfahren vor Jahrhunderten kamen, quasi "gefühlte Einwanderer". Ähnlich wie viele muslimische Immigranten in den französischen Banlieues oder den Brennpunkten deutscher Großstädte stellen sie überdurchschnittlich viele Arbeitslose, führen die Kriminalitätsstatistik an und identifizieren sich nicht mit einem Land, von dem sie sich ausgegrenzt fühlen.

 

Nicht nur wurde Amerika im Lauf seiner Geschichte immer weißer, die Einwanderer, die zunächst als nicht richtig weiß galten, erkämpften sich das Weiß-sein: Erst die Iren, dann die Polen, die Süditaliener und die Juden. Der Staat hat bei der Assimilation nachgeholfen, so weitgehend, dass Immigranten zwangsweise englische Namen bekamen und dass Fremdsprachenwie Deutsch — zwischenzeitlich verboten wurden. Schwarze aber waren von dieser Zwangsassimilation nicht nur ausgenommen; es gab seit Ende der Sklaverei sogar eine gesetzliche Rassentrennung in der Armee, in Schulen, Fabriken und Kirchen, die erst zwischen 1948 und 1967, mit der Bürgerrechtsbewegung, aufgehoben wurde.

 

Die Aufhebung der Rassentrennung wurde mit Hunderten von Toten erkämpft; das Federal Government schickte gar Truppen, um schwarze Schüler in weiße Schulen zu eskortieren. Aber erst der Rollback der Reagan-Jahre hat dafür gesorgt, dass die Integration auch für Weiße akzeptabel wurde. Das geschah durch dreierlei: Die Quasi-Abschaffung der Sozialhilfe, die weitgehende Privatisierung der Schulen, und eben die sehr erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in den Innenstädten.

 

Als Reagan öffentlich die "Welfare Queens” anprangerte, meinte er damit schwarze Frauen, die zu Unrecht Sozialhilfe kassieren. Das fand die Zustimmung der weißen Mehrheit. Sie unterstützte es auch als unter Clinton die Sozialhilfe mit einer Arbeitspflicht kombiniert wurde. Eine ähnliche Entwicklung gab es in den Schulen. Das "Busing” (weiße Schüler wurden in schwarze Schulen gefahren und umgekehrt) führte zu einer praktisch vollständigen Flucht der Weißen aus dem öffentlichen Schulsystem, und dann zu einer Mitteldrainage. Daraufhin ruderten die meisten Bundesstaaten zurück: Heute fördern Kommunen "Charter Schools”, semi-öffentliche Schulen, die sich Kinder ähnlich aussuchen können wie Privatschulen.

 

Letztlich ist Herzstück der Integration aber die "Zero Tolerance"-Politik gegen Kriminelle, die von New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani (oder eigentlich eher seinem ersten Polizeichef William Bratton) propagiert wurde. Es ging im Kern darum, die Innenstädte der ethnisch gemischten Städte, ihre Parks, Plätze und Verkehrsmittel, mit der Hilfe einer massiven Polizei- und Justizmacht für die weiße Mittelklasse wieder bewohnbar zu machen. Die Weißen waren von dort in den sechziger und siebziger Jahren in Scharen in die Suburbs geflüchtet.

 

Zu "Zero Tolerance” gehören nicht nur harte Strafen auch für kleinere Vergehen und für Ersttäter, sondern auch schnelle Urteile. Und selbst Kritiker — und davon gibt es vielekönnen nicht abstreiten, dass das letztlich Erfolg hatte. Der Erfolg zeigt sich nicht nur in den Kriminalitätszahlen sondern auch im Zusammenleben von Schwarzen und Weißen (und Hispanics).

 

Gerade die Großstädte, wo die Polizei besonders effektiv zugreift, sind heute sehr viel weniger segregiert als früher. Nicht nur auf dem Papier, man sieht es auch in den Straßen, Restaurants, Theatern und sogar (wenigsten teilweise) in den Kirchen. Das gilt vor allem für New York; in etwas geringerem Umfang auch für Los Angeles, Chicago, oder Boston. Hingegen sind Städte wie Washington D.C., Detroit oder New Orleans, wo die Polizei ineffektiv und korrupt ist, nicht nur krimineller als andere sondern auch segregierter. Und der Anteil der Weißen, die in Gated Communities oder Suburbs geflüchtet sind, ist hier viel höher.

 

Natürlich hat das amerikanische System auch Nachteile: Ein großer Anteil der Bevölkerungein Prozent der Erwachsenen, also um die zwei Millionen Menschensitzen im Knast, viele davon wegen Drogenvergehen. Es sind überproportional viele schwarze Männer darunter, gegen die der Justizapparat immer noch Vorurteile hat. Wenngleich er nicht einseitig ist: Auch Verbrechen gegen Schwarze oder andere ethnische Minderheiten werden als "Hate Crimes" besonders streng bestraft. Vor allem in New York ist das Gebaren der Polizei durchaus rabiat. Sie greift erst zu und stellt erst danach Fragen. Auf Europäer wirkt das oft so, als sei die multikulturelle Gesellschaft in den USA gescheitert. Aber das Gegenteil ist der Fall. Dieser Polizeiapparat ist der Kitt, der das multikulturelle Amerika zusammenhält.