Obama muss die Geheimnistuerei
beenden
Der US-Präsident
hat mit der verheerenden Guantánamo-Politik
George W. Bushs nicht radikal gebrochen.
Nun hilft
nur noch totale Öffentlichkeit. Ein Kommentar.
Von: Martin Klingst
26.4.2011
Nein, es
steht fürwahr nichts wirklich Neues in den geheimen Akten über die Gefangenen von Guantánamo. Das meiste, was die Internet-Enthüller von
Wikileaks und die von ihnen gefütterten
Zeitungen soeben veröffentlicht haben, war irgendwie bereits bekannt. Jedenfalls in Umrissen.
Und dennoch
sind diese Akten in ihrer Zusammenschau ein einzigartiges Dokument des gewaltigen Schlamassels von Guantánamo. Verursacht vom republikanischen Präsidenten George W. Bush und fortgeführt
von seinem demokratischen Nachfolger Barack Obama.
Niemand kann ernsthaft
bezweifeln, dass sich unter den insgesamt 779 Terrorverdächtigen,
die innerhalb der vergangenen neun Jahre auf der kubanischen
US-Militärbasis weggeschlossen
wurden, schlimme Verbrecher befanden. Und niemand kann bestreiten,
dass die Schlimmsten dort immer noch
einsitzen. Zum Beispiel Scheich Mohammed, der Planer des Massenmordes und Menschheitsverbrechens vom 11.
September 2001, sowie einige
Helfershelfer.
172 Männer
werden weiterhin auf Guantánamo festgehalten, weil man ihnen vor einer Militärkommission
den Prozess machen oder sie wegen
ihrer vermeintlichen Gefährlichkeit ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte
Zeit einschließen will. Oder
weil man sie nicht in ihre Heimat
oder ein drittes Land ausliefern kann. Vielen von ihnen wird der
Stempel "hohes Sicherheitsrisiko" aufgedrückt,
auch weil man schlechte Erfahrungen gemacht hat.
Einige ehemalige Gefangene schlossen sich nach ihrer
Entlassung unverzüglich islamistischen Terrorgruppen an
und verübten Attentate. Entweder weil sie
bereits von Anfang an vom Krieg gegen
Amerika überzeugt waren, oder weil
sie erst im Laufe ihrer
unmenschlichen Isolationshaft
in den Käfigen von Guantánamo
zu Amerikahassern wurden. In den amerikanischen Sonntags-Talkshows entbrannte nach dem Bekanntwerden
der Guantánamo-Akten sofort heftiger politischer Streit darüber, ob man entweder zu viele eingekerkert
oder zu viele
zu früh freigelassen
habe.
Beileibe sind viele
der Insassen keine Unschuldslämmer, sondern Schwerverbrecher. Auch das ergibt
sich aus den Dokumenten. Einige drohten ihren Wärtern
mit Rache und dem Tod; sie
priesen den heiligen Krieg gegen Amerika.
Doch Dokumente, angelegt zwischen Februar 2002 und Januar 2009, geben Auskunft über mehr als
700 Gefangene und sind auch ein Beleg
des rechtlichen und moralischen
Dilemmas der Vereinigten Staaten. Sie bezeugen
die oft blinde Verfolgungswut
in einem Augenblick größter nationaler Erschütterung. Sie beschreiben das Chaos, den hasserfüllten Eifer, den Dilettantismus und die mitunter
fatale Gesetzlosigkeit des Antiterrorkampfs.
Die Dokumente
berichten über die Spannungen zwischen Bewachern und Bewachten. Sie halten die Foltermaßnahmen fest und die unter
Pein erzwungenen Aussagen. Sie bezeugen
falsche Beschuldigungen von
unter Druck gesetzten Mitgefangenen und die
oft fadenscheinige Beweislage.
Schwere Schicksale werden offen gelegt.
So glaubten die Verhörer zum Beispiel, dass
ein Gefangener selbst nach sechs
Jahren Quälerei und brutaler Befragung noch nicht alles
Preis gegeben habe und nach wie
vor "Zonen möglicher Informationsausbeutung"
blieben.
Einige Männer gerieten
nur deshalb im Mittleren Osten
in die Hände der Terroristenjäger und weiter nach Guantánamo, weil sie zufällig
eine Fahrkarte nach Kabul in der Jackentasche hatten oder sich mit
einem gefälschten Reisedokument auswiesen. Weil niemand ihre Sprache
verstand, sie die verkehrten Freunde hatten oder weder
lesen noch schreiben konnten. Der Irrtum stellte sich oft erst nach
Jahren der Gefangenschaft heraus – und oft erst, nachdem die Justiz sich eingeschaltet
hatte. Selbst dann mussten einige
noch ewig auf ihre Freilassung warten.
Barack Obama sagt, seine Regierung habe sofort nach
seinem Amtsantritt vor zwei Jahren
eine neue Einschätzung der Gefangenen und ihrer Gefährlichkeit unternommen. Missstände und Missverständnisse seien ausgeräumt und Beweise einem Härtetest
unterworfen worden. Die Beamten hätten nach der Prüfung
zum Teil andere Schlüsse als die Bush-Regierung geschlossen. Doch auch diese neuen
Beurteilungen bleiben geheim.
Weil Präsident
Obama, anders als versprochen, nicht radikal mit der
verheerenden Guantánamo-Politik
seines Vorgängers gebrochen
hat, mag man seinen Beteuerungen kaum glauben. Es hilft darum nur noch
die Flucht in die totale Öffentlichkeit. Obama muss lückenlos
offen legen, warum viele der
172 Gefangenen von Guantánamo
weiterhin eingesperrt bleiben sollen. Die Geheimnistuerei muss ein Ende finden.