Wahrscheinlich beginnt in dieser Woche die Regierung Obama. Nein, nicht die Amtszeit des Präsidenten Obama. Denn Kandidat Obama kann noch immer
verlieren. Aber die Regierungsphilosophie des
Barack Obama erobert jetzt Amerika. Mit dem
immer noch umkämpften Rettungspaket für die Bank-Giganten von der Wall Street geht unweigerlich jene Ära zu Ende,
die mit Ronald Reagan begann:
freie Märkte, niedrige Steuern, Deregulierung.
Alle anderen Weltregionen,
vor allem Europa, ließen die Vereinigten Staaten ökonomisch jahrzehntelang weit hinter sich. Einen fantastischen Wohlstand hat die Phase des Laisser-faire-Kapitalismus
Amerika beschert. Bis zum Exzess. Nun, da die Blase geplatzt ist, dürfte eine
Periode staatlicher Interventionen ins Wirtschaftsleben
folgen. Wahrscheinlich keine europäische Regulierungswut, sondern – laut Barack Obama – "freie"
statt "wilde" Märkte.
Binnen zwei Wochen
hat eine Philosophie des Wirtschaftslebens bankrott anmelden müssen; die Wall Street ist grundlegend neu strukturiert; und der Wahlkampf steht
Kopf. Die Bürger wollen nun
nichts mehr von unregulierten Märkten hören, sondern von Ideen, Märkte zu
bändigen. Und damit wollen sie von Barack Obama hören. Noch vor
Kurzem hatte sich der Kontrahent
John McCain einen kleinen Vorsprung herausgearbeitet, doch der ist
nun dahin. Der Krisengewinnler heißt Barack
Obama.
Zunächst mal, weil mit der Finanzkrise
das Thema gewechselt wurde. Nicht mehr
Irak, sondern Wirtschaft. Nicht mehr Palin, sondern Finanzkrise. Und dann, weil Chaos herrscht. Den Wandel wollten die Amerikaner seit Langem. Aber jetzt,
mitten in dieser stündlich wachsenden Wirrnis, wollen sie erst
recht einen neuen, einen frischen
Start. Jede Stunde Chaos hilft Barack Obama.
Erinnern wir uns
jener fernen Zeit, sechs Wochen mag
es her sein, da stand Obama ein Kandidat gegenüber, der zwar zugab,
die Wirtschaftspolitik nicht
zu seinen Stärken zu zählen.
Aber er hatte
doch eine respektable Geschichte als Kämpfer gegen Verschwendung
und für niedrige Steuern vorzuweisen. Doch in den Wochen der Krise entpuppte
McCain sich nicht nur als impulsiv,
sprunghaft, ja unberechenbar.
Er musste auch
erleben, wie Journalisten seine Vergangenheit als Deregulierer aus den Archiven hervorholten. McCain steht plötzlich für die Exzesse der Wall Street, gegen die er zugleich
wettert. Die Krise hat McCains Hauptbotschaft unterminiert, derzufolge sich Wandel und Reform auch republikanisch buchstabieren ließen.
Erinnern wir uns
sechs Monate zurück. Damals jagte Hillary Clinton durch die Arbeiterquartiere des Mittleren Westens und empfahl sich als Kandidatin
des kleinen Mannes. Barack Obama kam
manchem wie ein Kandidat aus
der dritten Galaxie vor, abgehoben
und professoral. Für die Sorgen und Nöte der arbeitenden Bevölkerung schien der Harvard-Absolvent keinen Sinn
zu haben. Sogar, als Obama sich die Kandidatur
schon gesichert hatte, feierte Hillary Clinton in
einzelnen Industrieregionen
weiterhin große Siege. Noch vor wenigen
Wochen sagte einer der führenden
Demokratischen Strategen,
Obama habe die “Rucola-Wähler”
sicher, nun benötige er die “Schinken und Käse-Waählerschaft”. Will sagen:
Cappuccino-Trinker und Biokost-Fans
und andere städtische Linksliberale reichen nicht; Gewerkschafter, die mittags ein altmodisches
Doppeldecker-Sandwich essen,
braucht Obama.
Die Krise, so scheint es, bringt
diese Gruppe den Demokraten näher. Bei der ersten
Fernseh-Debatte präsentierte
sich Obama von der ersten Sekunde an erfolgreich als Kandidat der kleinen
Leute. Gewiss, er tat es nicht
so emotional und nicht so beispielschwanger
wie weiland Bill Clinton, aber doch effektiv.
Dass die Krise für "Main Street" schon
"viel früher" begonnen habe als
für "Wall Street", zählt
zu den erfolgreichsten Sätzen aus Obamas
Wahlkampfrede.
Jeder weiß eben,
dass die Arbeitslosigkeit schon länger anstieg,
besonders im ländlichen Raum. Jeder weiß, dass
die Löhne seit Jahren stagnieren. Im direkten Vergleich
mit John McCain wirkt nun sogar der kühle
Barack Obama wie ein Arbeiterführer. John McCain habe
den Begriff “Mittelschicht”
in seinen Debatten-Beiträgen
nicht einmal erwähnt, ruft Barack Obama seinen Zuhörern nun bei jeder Gelegenheit
zu. Zehntausende johlen bei solchen
Sätzen, jedes Mal.
Dank des Dramas an der Wall Street hat Barack Obama in den landesweiten
Umfragen erstmals einen substanziellen Vorsprung herausgearbeitet. Acht Prozentpunkte sollen es sein.
Und das Momentum liegt weiterhin
bei Obama. Doch bekanntlich wählt Amerika nicht einheitlich,
sondern in 52 einzelnen Bundesstaaten. Wer sich die Bundesstaaten anschaut, stellt fest, dass der Vorsprung
dort, wo es zählt, weiterhin
hauchdünn ist.
In Ohio, dem Bundesstaat, der 2004 die Wahl entschied und es diesmal wieder tun könnte, liegt
weiterhin John McCain knapp
vorn. Die Achterbahnfahrt,
die sich amerikanischer Wahlkampf nennt, geht weiter.