Deutsche Haltung zu Kampftruppen enttäuscht Nato

 

Die Nato steht vor wegweisenden Entscheidungen. Doch in der Frage der dauerhaften Stationierung von Truppen in Osteuropa ist das Bündnis gespalten. Gerade an Deutschland sind die Erwartungen hoch. Von Christoph B. Schiltz, Brüssel

 

Sie trafen sich zum ersten Mal seit drei Monaten und saßen fast zwei Stunden zusammen. Sie machten sich Vorwürfe und lasen, einer nach dem anderen, vorbereitete Statements vor. Die Stimmung war eisig. Dabei hatte der russische Botschafter Alexander Gruschko das Treffen mit den 28 Nato-Botschaftern im Rahmen des Nato-Russland-Rates beantragt. Hoffnung kam auf: Würden sich Moskau und die Nato trotz Ukraine-Krise wieder ganz langsam annähern? Aber daraus wurde nichts. "Es gibt nichts. Es gibt kein Anzeichen der Hoffnung", sagte ein Nato-Diplomat.

 

Das macht das Treffen der 28 Nato-Verteidigungsminister am Dienstag in Brüssel nicht gerade leichter, im Gegenteil. Das Verteidigungsbündnis steht vor wegweisenden Entscheidungen in Osteuropa und in Afghanistan – aber es sind noch keine Antworten in Sicht. Dabei drängt die Zeit.

 

Die Staats- und Regierungschefs sollen beim Nato-Gipfel Anfang September in Wales Beschlüsse fassen zur neuen Verteidigungsplanung für Osteuropa, zu einer generellen Verbesserung der militärischen Fähigkeiten, einer gerechteren finanziellen Lastenverteilung innerhalb der Allianz und über die Ausbildungsmission "Resolute Support" ab 2015 in Afghanistan.

 

Rasmussen will Folgen der Ukraine-Krise diskutieren

 

Noch immer ist sich die Nato nicht im Klaren darüber, wie man auf die Bedrohung durch Russland nach der Annexion der Krim in Osteuropa reagieren will. "Wenn sich die Nato-Verteidigungsminister in dieser Woche in Brüssel treffen, werden wir die kurz- und langfristigen Folgen der Ukraine-Krise für die Nato diskutieren", sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen der "Welt".

 

Er verwies darauf, dass die Allianz inzwischen zahlreiche kurzfristige Maßnahmen, wie eine verbesserte Luft- und Seeüberwachung, eingeleitet habe. "Jeder der 28 Verbündeten beteiligt sich daran auf seine Weise, mit Schiffen, Flugzeugen, Truppen und Planern. Das nenne ich Solidarität in Aktion", sagte Rasmussen. Nun komme es aber darauf an, die langfristigen Folgen zu betrachten: "Russlands illegale Annexion der Krim und seine andauernden Aggressionen gegenüber der Ukraine haben eine neue Sicherheitslage in Europa geschaffen."

 

Wie die neuen langfristigen Maßnahmen für eine bessere Verteidigung und eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Russland aussehen sollen, ist allerdings noch völlig offen. Auf Antrag Polens sollen die Verteidigungsminister am Dienstag zumindest über eine Aufstockung des derzeit 250 Personen starken Multinationalen Korps Nordost in Stettin diskutierenwahrscheinlich ist, dass Deutschland sein Personal um rund 50 Soldaten erhöhen wird und dem Nato-Hauptquartier in Stettin künftig rotierende Truppen für Übungszwecke unterstellt werden.

 

Osteuropäer fühlen sich von Russland bedroht

 

Aber dies wäre aus Sicht der Osteuropäer und Balten nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie empfinden Russland als "Feind" und fühlen sich direkt vor ihrer Haustür bedroht. "Russland will die Probleme in der Ukraine immer noch als internen Konflikt darstellen. Aber das ist er nicht, Russland hat diesen Konflikt durch sein aggressives Verhalten provoziert", sagte Estlands Nato-Botschafter Lauri Lepik der "Welt".

 

Die Nato-Mitglieder aus dem Baltikum und Osteuropa fordern neben groß angelegten Nato-Manövern eine andauernde und sichtbare Präsenz von Kampftruppen und modernem Gerät in Osteuropa. Vielen südeuropäischen Staaten geht dies zu weit. Auch Deutschland ist "äußerst zurückhaltend", heißt es in hohen Nato-Kreisen. "Das ist enttäuschend", sagte ein Nato-Diplomat. Die Allianz ist in der Frage der dauerhaften Stationierung von Truppen in Osteuropa tief gespalten.

 

Das wissen die Verteidigungsminister. Dienstagabend, ab 19.30 Uhr, wollen sie Tacheles reden in Brüssel. Dann ist das Pflichtprogramm abgearbeitet, dann soll es für mindestens drei Stunden ans Eingemachte gehen. Auf dem Programm stehen die "strategischen Implikationen der Russland-Ukraine-Krise" und die "Veränderung des Verteidigungsdispositivs", wie es im internen Nato-Jargon heißt. Entschieden ist mittlerweile offenbar, dass sich die Nato-Länder auch weiterhin an den Grundlagenvertrag mit Russland aus dem Jahr 1997 halten wollen. Danach dürfen dauerhaft keine "substanziellen Kampftruppen" auf dem Gebiet der Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes stationiert werden, damit Moskau sich nicht provoziert fühlt.

 

Mehr Geld in Verteidigung ist nötig

 

Die zentrale Frage wird nun sein, was genau mit "substanziellen Kampftruppen" gemeint ist. Das wurde immer offengelassen. Die Expertenmeinungen reichen von 5000 bis 20.000 Soldaten. Die Osteuropäer, allen voran Polen, wollen jetzt konkrete Antworten, sie fordern glaubhafte Abschreckung und die klare Rückversicherung der Bündnispartner, im Falle eines Angriffs nicht nur beistehen zu wollen, sondern es auch zu können.

 

Neben der Frage, wie groß dauerhaft stationierte Kampftruppen in Osteuropa sein sollten, wird auch darüber beraten, inwieweit eine dauerhafte Stationierung überhaupt sinnvoll ist. Militärexperten geben zu bedenken, dass eine erhöhte Einsatzbereitschaft und Flexibilität der Truppen viel wichtiger ist: "Man muss die Kräfte schnell dahin führen können, wo sie gebraucht werden." Deswegen will Nato-Oberkommandeur Philip Breedlove den Ministern Dienstagabend auch vorschlagen, die Schnelle Eingreiftruppe des Bündnisses (Nato Response Force) rascher als bisher einsetzbar zu machen.

 

Klar ist aber schon jetzt: Die Nato muss angesichts der neuen Herausforderungen im Osten ihre militärischen Fähigkeiten verbessern und mehr Geld in die Verteidigung stecken. "Jetzt, wo die Rezession in vielen Ländern vorbei ist, erwarten wir, dass die Verteidigungsbudgets steigen", sagte der Nato-Botschafter der USA, Douglas Lute. Und Rasmussen betonte: "Wir brauchen die richtigen Fähigkeiten, um eine glaubwürdige Verteidigung beibehalten zu können."

 

In den vergangenen fünf Jahren habe Russland seine Investitionen im Verteidigungsbereich jährlich um zehn Prozent erhöht, während europäische Bündnismitglieder ihre Ausgaben teilweise um bis zu 40 Prozent reduziert hätten. "Ich weiß, es ist nicht leicht, diesen Trend zur Kürzung der Verteidigungsausgaben umzukehren. Aber unsere Sicherheit ist das Fundament unseres Wohlstands und unserer Lebenskultur, und um das zu bewahren, müssen wir in Verteidigung investieren."

 

Auch Afghanistan wird ein Thema

 

Das Thema dürfte zu hitzigen Debatten beim Treffen der Verteidigungsminister führen. Gerade an Deutschland sind die Erwartungen hoch, künftig Soldaten nach Osteuropa zu schicken und die Ausgaben zu erhöhen. Berlin hat im Jahr 2013 nur 1,34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung investiert, deutlich weniger als die von der Nato geforderten zwei Prozentdamit liegt das reichste Land in Europa in diesem Bereich nur auf Rang 14.

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte unterdessen, sie sehe die frühere Sowjetrepublik Georgien auf absehbare Zeit nicht in der Nato. Ein Beitritt stehe beim Nato-Gipfel in Wales auch nicht auf der Tagesordnung. Georgien bemüht sich wie die Ukraine um eine Aufnahme in das Verteidigungsbündnis.

 

Ein weiterer wichtiger Punkt auf der Tagesordnung der Minister: Afghanistan. Völlig überrascht wurde das Bündnis durch die Ankündigung von US-Präsident Barack Obama, von 2015 an noch 9800 US-Soldaten vornehmlich für Ausbildungszwecke in Afghanistan zu lassen und sie bis 2016 wieder abzuziehen. Die bisherigen Einsatzkonzepte für die Ausbildungsmission "Resolute Support" sind damit gefährdet, unklar ist auch, ob der Einsatz in Afghanistan nach Abzug der Amerikaner in zwei Jahren vollständig beendet werden soll.