Amerikas Ideale sind ehrlicher als die deutschen
Warum empfinden
Deutsche und Amerikaner so unterschiedlich,
wenn es um Sicherheit und Freiheit geht? Keine gute
Basis für das deutsch-amerikanische
Verhältnis, zu dem es keine
guten Alternativen gibt.
Von
Ansgar Graw
Es
begegnen sich, ganz zufällig, Erika Mustermann, eine Dame aus der Mitte
Deutschlands, und Joe Average, ihr
männliches Pendant aus der amerikanischen Provinz. Sie diskutieren,
sagen wir: als Sitznachbarn auf einem Transatlantikflug, über das, was sie jeweils am anderen irritiert. Die Sprache ist dabei kein
echtes Problem: Erika hat Englisch
gelernt – und Joe immerhin eine sehr hohe
Meinung von Deutschland. Aber
dann kommen die beiden auf NSA und Spionage, Gerechtigkeit und Nanny-Staat, Freiheit und Sicherheit. Und die Harmonie scheint dahin.
Wie steht es um die deutsch-amerikanischen Beziehungen, ein halbes Jahr nach
den ersten Enthüllungen aus dem noch
längst nicht erschöpften Aktenfundus des
Edward Snowden und zum Zeitpunkt
des Antritts der großen Koalition in Berlin? Eine wichtige Frage
für die kommenden Jahre ist, ob Angela Merkel und
Barack Obama zurückfinden zu
einem operablen Vertrauensverhältnis. Sollte die Kanzlerin den Eindruck gewonnen haben, der Präsident habe
sie in der Frage seines Wissens um den Lauschangriff belogen, würde dies schwierig.
Doch für die langfristigen Beziehungen ist die Chemie zwischen zwei Politikern
nachrangig gegenüber der wechselseitigen Wahrnehmung der beiden Nationen. Und hier ist eine
Diskrepanz offenkundig. Man
trifft ungleich mehr Deutsche, die Amerika verachten, als Amerikaner, die Deutschland nicht
bewunderten: wegen seiner
Restaurants, "Gemutlischkeit", Effizienz und Autos. Amerikaner können sich kaum
vorstellen, dass eine solche leistungsfähige
Nation nicht auch einen tüchtigen Geheimdienst unterhält.
Die
Deutschen denken noch an Gestapo und Stasi
"Jeder spioniert doch gegen jeden",
sagt Joe kurz nach dem Start. "Und außerdem müssen wir uns gegen
Terroristen schützen."
Erika widerspricht. Deutschland sei,
trotz der einstigen Hamburger Zelle um den
"9/11"-Attentäter Mohammed Atta, kein Aufmarschgebiet gewaltbereiter Islamisten.
"Man darf nicht die Daten aller sammeln,
um einigen wenigen möglicherweise auf die Schliche zu kommen." Und das Abhören der Kanzlerin
sei mit Sicherheit
kein Beitrag zur Terrorabwehr.
Joe
mag sich bestätigt fühlen, weil deutsche Sicherheitsbehörden
dank der Informationen der NSA im Herbst
2007 einen Anschlag der Sauerland-Gruppe verhinderten. Doch mit dem von Snowden enthüllten Prism-Programm, mit dem die NSA gigantische Mengen von Metadaten innerhalb und außerhalb der USA kopiert, hatte diese Operation nichts zu tun. Bislang
gibt es keine
Belege dafür, dass die Massenüberwachung der Telefon- und Internetverbindung zu nennenswerten Erfolgen im Anti-Terror-Kampf beitrug.
Alle Staaten unterhalten Geheimdienste. Eine Handvoll deutscher
BND-Mitarbeiter ist auch in Washington tätig. Aber sie horchen
weder das Weiße Haus noch den Kongress
aus. Die Deutschen, in deren DNA die Erinnerung an
Gestapo und Stasi steckt, mögen
Spione nur in Gestalt von
James Bond oder der Roten Kapelle im
Zweiten Weltkrieg. Die
Nation hat einen Harmoniereflex.
Fast schlimmer noch als der Gedanke,
dass Merkel abgehört wird, ist die Vorstellung,
der Bundesnachrichtendienst
agiere im Ausland ähnlich.
Deutsche
klingen edel, Amerikaner handeln
Allein die Diskussion
über eine (faktisch ausgesprochen unwahrscheinliche) Mitgliedschaft
Berlins im exklusiven Spionage-Klub Five Eyes wird als ebenso unzumutbar
verstanden wie die Einladung eines Vegetariers ins Steakhouse. Das geht
einher mit der deutschen Abneigung
gegen alles Militärische: Am Afghanistan-Einsatz
fand die Bevölkerung die Vorstellung, dort würden deutsche Soldaten sterben, mutmaßlich weniger schlimm als den Gedanken, dort würden deutsche Soldaten töten.
Afghanistan
zeigt das unterschiedliche Denken von Amerikanern und Deutschen. Die Amerikaner bekämpften dort den Terrorismus. Die Deutschen kämpften für das Recht von Mädchen, eine Schule zu
besuchen. Letzteres mag edel klingen.
Aber obwohl in Afghanistan
die Chancengerechtigkeit für
Mädchen noch längst nicht erreicht
ist, sind die hehren Motive der Deutschen erschöpft. In Umfragen fordern sie den Totalabzug.
Al-Qaida
hingegen wurde aus Afghanistan vertrieben. Heute sitzen die Terrornester in anderen Ecken der Welt. Trotzdem bringen die Amerikaner genügend Standfestigkeit auf, um mehrheitlich
den Verbleib eines Restkontingentes über 2014 hinaus zu befürworten.
Wessen Idealismus ist ehrlicher?
Die
asiatische Konkurrenz schläft nicht
Auf
dem Transatlantikflug geht es inzwischen
um Gerechtigkeit. Erika mag
Umverteilung und den behütenden
Nanny-Staat. Aber die Sicherheit, die aus der geheimdienstlichen Überprüfung ihrer Telefonverbindungen entstehen soll, lehnt sie
ab. Sie ziehe Freiheit vor. Ob sie dafür auch
kämpfen würde, bleibt unklar. Joe hingegen redet viel von Freiheit, und ein zu mächtiger
Staat ist ihm suspekt.
Nicht nur für seine persönliche Freiheit würde er kämpfen. Die USA engagierten sich im Balkan-Krieg, obwohl es dort nicht
um nationale Interessen ging. Ebenso befürworten
die Amerikaner mehrheitlich
die Verteidigung Israels. Doch Joe hat wenig Bedenken, wenn die Freiheit seiner Landsleute tangiert wird durch
das Sammeln der Metadaten von Telefon- oder Internetverbindungen. Das schütze eben sein
Land und seine Familie gegen
Terrorattacken.
Der klassische Terrorismus dürfte jedoch nicht die größte Herausforderung der Zukunft sein.
Eine internationale Unordnung droht, geprägt durch den "Rise of
the Rest", den Aufstieg neuer
regionaler Mächte. Im asiatischen Großraum wachsen Spannungen. In der künftig viel stärker
auf sich gestellten afghanisch-pakistanischen Region prallen
säkulare und religiöse Kräfte aufeinander. In Afrika nimmt der
Einfluss des gewaltbereiten
Islamismus weit über den Maghreb-Streifen hinaus zu.
Europäer brauchen einen Partner
Das
Flugzeug setzt zur Landung an. Gäbe es Erika Mustermann
und Joe Average tatsächlich, wären
sie zu diesem
Zeitpunkt vielleicht heillos zerstritten. Oder ihr Unmut über
einen Geheimdienst, der das Maß verlor
und reformiert werden muss,
würde verblassen angesichts der realen Herausforderungen.
Die
Deutschen, und mit ihnen die Europäer, brauchen einen Partner, der ihre Werte
teilt und die Kraft und den Willen
hat, Führung zu übernehmen. Und die Amerikaner brauchen Verbündete mit identischen Prinzipien, die ihnen beistehen in einer komplizierteren Welt.
Gibt es vor diesem Hintergrund
Alternativen zur Fortsetzung und sogar Stärkung der transatlantischen
Bindungen? Natürlich. Aber nur schlechtere.