Den Kindergarten zu
Fort Knox machen? Gerne!
Der Sohn von "Welt"-Redakteurin Iris Alanyali besucht einen amerikanischen Kindergarten. Schon oft hat sie sich über die strengen Sicherheitsvorkehrungen geärgert. Nach dem Massaker ist alles anders. Von Iris Alanyali
Mein fünfjähriger Sohn Finn geht in einen amerikanischen Kindergarten - in genauso einen wie die Sandy Hook Elementary School in Newtown, Connecticut.
Bethlehem in Pennsylvania ist ungefähr so weit von Philadelphia entfernt wie Newtown von New York, auf ihre Weise sind beide recht durchschnittliche amerikanische Ostküstenstädte. Finns Schule sieht sogar ganz ähnlich aus wie die Sandy Hook, ein gesichtsloses Flachdachgebäude in Gelbtönen, mit riesigem Parkplatz direkt nebenan und einem kümmerlichen Fahrradständer an der Rückseite, der von niemandem benutzt wird.
Über Finns Kindergarten lustig gemacht
Während ich diese Zeilen schreibe, ist das Massaker von Newtown einen Tag alt, und bis vor zwei Tagen habe ich mich noch fast täglich über Finns Kindergarten lustig gemacht. Dazu muss ich sagen, dass in in Berlin lebe, eine Pendelbeziehung führe und gerade zu Besuch in den USA bin. Mein Mann kümmert sich um die Kinder und arbeitet dort.
Ich erzählte meinem erstaunten amerikanischen Ehemann, wie ich im Alter von vier Jahren mit den Nachbarskindern mutterseelenallein in den Kindergarten zu marschieren pflegte, und beschrieb Finns Schule mit ihren starren Regeln gerne als eine Art Militärakademie in der "Sesamstraße".
Heute sehe ich das anders. Ich will ein bisschen vom Alltag mit einem amerikanischen Kindergarten-Kind erzählen.
In den Kindergarten, der bekanntlich genauso heißt und geschrieben wird wie sein deutsches Vorbild, kommen amerikanische Kinder mit fünf Jahren. Mit dem deutschen Kindergarten hat er allerdings wenig zu tun – an manchen Schulen heißt die Stufe auch treffender grade 0, nullte Klasse – weil sie genau das ist: ein Jahr der Vorbereitung auf die "richtige Schule". Und zwar sowohl für die Schüler als auch für ihre Eltern, wie mir scheint.
US-Grundschule
Schock und Trauer nach Amoklauf von Newtown
Schießerei
Dutzende Tote an US-Grundschule
"Time-out-Stuhl" für schlechtes Betragen
Kindergärten gehören immer zur Grundschule, die das Kind im nächsten Jahr besuchen wird; es gibt reizende Klassenlehrer, es gibt Fächer wie Kunst, Turnen und Musik, es gibt reichlich Sternchen für gutes und einen "Time-out-Stuhl" für besonders schlechtes Betragen, und am Ende des Jahres soll das Kind ein bisschen lesen, schreiben und rechnen können.
Während ich das Leistungsprinzip längst schätzen gelernt habe – für Finn ist das Erlernen des Alphabets ein aufregendes Spiel und kein Drill – hatte ich mit dem durchstrukturierten Rest bislang so meine Schwierigkeiten.
Wir wohnen fünf Minuten von der Schule entfernt. Montags bis Freitags um kurz vor neun Uhr laufe ich mit meinem Sohn zum "Fußgänger-Eingang", zwei unscheinbaren Türen links neben dem Haupteingang.
Um 8.55 Uhr gehen die Türen auf
Auf einem kleinen Vorplatz stellen sich die Kindergartenkinder der zwei Vormittagsklassen (es gibt auch zwei am Nachmittag) in zwei Schlangen auf. Die älteren "Fußgänger-Schüler" versammeln sich irgendwo an der rechten Seite des Schulgebäudes. Wir Eltern stehen herum, plaudern oder mahnen zum 58. Mal, den Schal später nicht an der Schulgarderobe hängen zu lassen.
Um 8.55 Uhr gehen die beiden Türen auf, die zwei Lehrer treten heraus, stellen sich an die Spitze ihrer Schlangen, winken den Eltern freundlich zu und marschieren mit ihren Schützlingen ins Haus. Die Türen schließen sich und sind bis 11.40 Uhr von außen nicht zu öffnen.
Um 11.40 Uhr geht die rechte Pforte auf, eine Lehrerin tritt halb heraus und ruft nacheinander die Schüler beider Klassen, die drinnen in einer Schlange bereitstehen, namentlich auf. Der dazugehörende Abholer macht sich mit einem Handzeichen bemerkbar, und wenn die Lehrerin nickt, rennt das Kind los.
Antwortet niemand auf das Ausrufen des Namens, weil Mutter, Vater, Oma oder Opa sich etwas verspätet haben, muss das Kind zurück an das Ende der Schlange.
"Das ist die Schulbus-Schlange!"
Zwei Mal sind Finn und ich morgens zu spät gekommen. Das war für mich mindestens so unangenehm wie für meinen Sohn. Die beiden Türen waren schon zu, also bin ich mit ihm zum Haupteingang marschiert. Der ist eigentlich den Schulbussen vorbehalten, die dort vorfahren.
Als wir ins Gebäude traten, standen verschiedene Wände entlang bereits verschiedene Schlangen. Ein paar Jungs aus der nächstgelegenen Reihe riefen erfreut Finns Namen, aber Finn wollte sich nicht dazustellen: "Das ist die Schulbus-Schlange!"
Wir mussten also weiter hinein durch den Schulflur, bis wir an einer weiteren Wand jene Klassenkameraden fanden, die sich zuvor an der Fußgänger-Tür aufgestellt hatten. Finn stellte sich dazu, ich guckte verwirrt, bis mich sein Klassenlehrer entdeckte, der wie ein Dirigent in der Mitte des Ganges stand und hastig meinte: Ja ja, das sei schon richtig, da könne ich Finn stehen lassen.
Ich machte, dass ich nach Hause kam. Als wir uns das zweite Mal verspäteten, scheuchte ich Finn nur von draußen durch den Haupteingang zur Reihe mit seinen Schulbus-Kameraden und kehrte um. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn man sein Kind zu spät abholt, ich wage es nicht, auch nur eine Minute zu spät zu kommen. So erzieht eine amerikanische Grundschule auch die Eltern.
Gäste benötigen einen Passierschein
Als ich meinem Mann später empört erzählte, man solle sich als Mutter in der Schule seines Sohnes ja wohl willkommen fühlen dürfen, wollte er nur verwundert wissen, wieso man mich überhaupt ins Gebäude gelassen hätte – jeder Erwachsene, der kein Mitarbeiter sei, werde ins Sekretariat geleitet, wo man sich an- und wieder abmelden müsse.
Und tatsächlich steht in der Schulordnung, dass Gäste einen Passierschein benötigen, den es ausschließlich im Sekretariat gebe: "Der Haupteingang wird von Sicherheitskameras überwacht. Bitte betätigen Sie die Klingel links neben der Tür und nennen Sie Namen und Grund Ihres Besuchs."
Ich bin noch nie länger im Schulgebäude gewesen, ich habe keine Ahnung, wie das Klassenzimmer meines Sohnes aussieht. Den einzigen Elternabend hat mein Mann besucht, ansonsten läuft die Kommunikation über einen roten Papp-Schnellhefter, der in Finns Schulranzen steckt: Auf der linken Seite prangt ein Aufkleber "Zu Hause lassen", rechts ein Aufkleber "Zurück zur Schule".
Bessere Noten als PTO-Mitglied
Im linken Fach stecken nicht nur Beispiele von Finns neuesten Mal- und Rechtschreibkünsten, sondern auch ausgedruckte Anregungen, wie man das in der Schule Gelernte vertiefen könne ("Liebe Eltern! Diese Woche lernen wir den Buchstaben H. Sie können helfen.
Schneiden Sie das H unten aus und befestigen Sie es an dem Bild eines Wortes, das mit H beginnt, einem Haus zum Beispiel."). Das rechte Fach ist für die zu unterschreibenden Formulare über Impfbescheinigungen und die Zurkenntnisnahme der Schulregeln sowie für Aufrufe, sich am kommenden Kuchenverkauf, dem Spendensammeln für die Opfer von Hurricane "Sandy" oder diversen außerschulischen Aktivitäten zu beteiligen, deren Einnahmen der Parent Teacher Organization (PTO), der Elternvertretung, und damit der Schule zugutekommen.
Unsere Nachbarin hat mir ans Herz gelegt, zu Finns Einschulung unbedingt aktives Mitglied der PTO zu werden. "Natürlich wird es niemand zugeben", sagte sie, "aber es ist so: Wenn du in der PTO bist, kriegt dein Kind bessere Noten."
Homeschooling um 74 Prozent gestiegen
Inzwischen verstehe ich auch, wieso: Die PTO ist so ziemlich die einzige Möglichkeit, amerikanischen Lehrern über die Schulter schauen zu können.
Das Volk, das aufschreit, weil sich der Präsident in die Krankenversicherung "einmischen" will, das Volk, das es nicht leiden kann, wenn man in sein Recht auf Waffen, Benzin und Fast Food eingreift, gibt seine Kinder widerstandslos an der Schulpforte ab wie an der Grenze zu einem fremden Land, für das es kein Visum besitzt.
Das Recht auf Bildung, das Recht, unabhängig von seiner Herkunft etwas aus sich zu machen – vielleicht ist es dieser Anspruch, der der amerikanischen Schule ihre Sonderstellung zugesteht. Und vielleicht ist diese Sonderstellung umgekehrt übrigens dafür mitverantwortlich, dass die Zahl der schulpflichtigen Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, einem Bericht des US-Bildungsministeriums von 2007 zufolge seit 1999 um 74 Prozent gestiegen ist.
Homeschooling scheint vielen Eltern – neben religiösen Gründen und Sicherheitsbedenken – die einzige Möglichkeit, Einfluss auf die Ausbildung ihrer Kinder nehmen zu können.
Als ich am Freitag von dem Massaker in Connecticut hörte, hatte ich Finn bereits pünktlich vom Kindergarten abgeholt und seinen roten Ordner inspiziert. Während er in seinem Zimmer seine Playmobil-Ritter eine gefährliche Dinosaurier-Attacke abwehren ließ, saß ich fassungslos vor dem so leise wie möglich gestellten Fernseher im Wohnzimmer.
Nicht mehr über die Sicherheitsvorkehrungen beklagen
Ich ziehe meinen Hut vor den Lehrern und Lehrerinnen der Sandy-Hook-Grundschule, die ihre Schüler nach der Katastrophe so ruhig und diszipliniert aus dem Schulgebäude führten, als ginge es um den Weg in die Turnhalle. Ich verstehe jetzt, wieso das möglich war.
Ich ziehe meinen Hut vor Kaitlin Roig, die sich mit ihren Erstklässlern in der Schultoilette verbarrikadierte und auch der Polizei nicht aufmachte, weil sie einen Trick des Schützen befürchtete: Erst wollte die 29-jährige Lehrerin die Ausweise unter der Tür durchgeschoben haben. Dann sagte sie, wenn sie Polizisten seien, könnten sich die Männer ja wohl selbst den Schlüssel besorgen und die Tür von außen aufschließen.
Ich verstehe jetzt, woher das Selbstbewusstsein für so eine Reaktion kommt.
Ich werde mich nicht mehr über die Sicherheitsvorkehrungen an Finns Schule beklagen. Von mir aus sollen sie seinen Kindergarten in Fort Knox umbauen – und ich ziehe meinen Hut vor der Tatsache, dass die Schule es schafft, auf meinen Sohn dabei so heimelig wie die "Sesamstraße” zu wirken.