Euroland sucht nach Sündenböcken
Stellen wir uns
vor, wir befänden uns am Ende einer Woche
der Negativschlagzeilen, am
Ende einer Woche, in der an den Finanzmärkten Nervosität, ja, Panik
aufkam. Wenn da eine große Ratingagentur
Frankreich zum ersten Mal überhaupt die Spitzennote für seine Kreditwürdigkeit entzogen hätte, dann wäre
sofort die Frage gestellt worden: Warum muss die das ausgerechnet jetzt tun und damit alles
nur noch schlimmer machen?
Nun hat Standard & Poor's
Frankreich tatsächlich am Freitagabend herabgestuft, allerdings am Ende einer Woche, in der Hoffnung aufgekommen
war: Hoffnung, dass die Konjunktur sich fängt, Hoffnung, dass die Euro-Krise doch noch glimpflich
ausgeht. Und trotzdem stellt sich die Frage: Warum ausgerechnet
jetzt?
Nun, die Zweifel
am Willen der europäischen Regierungen, ihre Probleme anzugehen,
sind nach
wie vor begründet.
Bezeichnend ist,
wie schon wieder daran gewerkelt
wird, die erst vor fünf Wochen
entworfene "Stabilitätsunion"
kleinzusägen - nicht nur von den üblichen Verdächtigen aus Südeuropa übrigens. Und selbst wenn
solche Zweifel nicht länger berechtigt
wären, es wird Zeit brauchen, ehe sie zerstreut
werden können. Nach vielen Jahren des Stillstands in Italien treibt Mario Monti seit noch nicht
einmal zwei Monaten einen halbwegs
Erfolg versprechenden Reformkurs voran. Und schon nennt der
neue Ministerpräsident Misstrauen der Märkte gegenüber der Zukunftsfähigkeit seines Landes "nicht mehr legitim". Meint er das
ernst?
Doch es sind nicht nur tief in der
Vergangenheit wurzelnde Versäumnisse, die heimische wie ausländische Investoren in Habachtstellung gegenüber Euroland gehen lassen. Es sind auch
die Reaktionen der Politik, erst auf die Finanzkrise von 2008/09 und nun auf die Euro-Krise. Von zwei
Leitmotiven ließen sich praktisch alle maßgeblichen europäischen Politiker in den zurückliegenden dreieinhalb Jahren leiten. Erstens soll dem
Wähler kurzfristig möglichst wenig zugemutet werden, unweigerlich kommende Zumutungen werden so lange wie
möglich verheimlicht. Zweitens wird die Verantwortung für alle Probleme Dritten
zugeschoben - wahlweise oder in Kombination
den Banken, den Spekulanten,
den Ratingagenturen, den Amerikanern.
Oder gleich den Märkten, diesen amorphen "Monstern" (Zitat Horst Köhler).
In beiden
Fällen lassen sich die Folgen bereits besichtigen. Den Griechen war bis
unmittelbar vor Ausbruch der Schuldenkrise
das Blaue vom Himmel herunter
versprochen worden. Nun setzt sich in Berlin und Brüssel die Erkenntnis durch, dass die Grenze des Durchsetzbaren in Athen bereits erreicht
ist. In Deutschland wiederum rächt sich die Strategie, dem Steuerzahler vorzumachen, bei den Hilfspaketen handele es sich um Bürgschaften,
für die er nie zur Kasse
gebeten wird. Bis heute gibt
es hierzulande keinen Kindergarten, der wegen Griechenland nicht gebaut wurde,
bis heute wurde keine Autobahn nicht geflickt, weil das Geld für
Irland oder Italien gebraucht worden wäre. Und doch schwindet die Bereitschaft der Bürger, irgendeinen substanziellen Beitrag zum Fortbestand der Währungsunion zu leisten.
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Umso
entschlossener wird nun auf
lieb gewonnene Sündenböcke eingeprügelt. Jüngstes Beispiel ist
die Finanztransaktionssteuer, auf die sich Angela Merkel und Frankreichs
Präsident Nicolas Sarkozy gerade
verständigt haben. Diese Anti-Spekulanten-Maßnahme nützt rein gar nichts, um die beiden Kernprobleme zu beseitigen, mit denen Europa
wie Amerika kämpfen: die Instabilität gefährlich großer Finanzinstitute und die Überschuldung
der Staaten. Die Kanzlerin weiß darum, wird aber
die Geister, die sie rufen half, nicht mehr los. Ihre eigene
Partei hat sich den Programmpunkt von Attac inzwischen zueigen gemacht.
Nun wird
es nicht lange dauern,
bis Europas Staatsleute den Zorn des Volkes zur Abwechslung wieder einmal auf die Ratingagenturen zu lenken suchen. Fast ist zu wünschen, dass nun die oft geforderte eigene, europäische Ratingagentur gegründet wird. Die würde entweder zu ähnlichen Urteilen
kommen wie die drei Marktführer aus den USA, oder sie würde sich
zum Büttel der Politik machen
lassen - was rasch weithin erkennbar wäre, da jeder Investor, dem sein Geld lieb
ist, sich dann weiter an den Urteilen der US-Konkurrenz orientieren würde. In beiden Fällen jedenfalls hätten die Verantwortlichen in
Berlin und Paris, Madrid und Rom eine Ausrede weniger. Immerhin.