Lieber Bob Dylan ...
Millionen haben Dich
bewundert, haben Deine Musik aufgesogen
und über Deine perfekte Lyrik gestaunt. Es ist
wahrscheinlich leichter, über Gott zu
schreiben als über Dich. Ein Brief zum
70. Geburtstag
Lieber Bob, wie fühlt sich das
eigentlich an, wenn man in seinem Popstarleben alles richtig gemacht
hat? Wenn eigentlich niemand behaupten kann, dass dieser
Dylan zu gar nichts taugt, einen schlechten
Job gemacht hat und sowieso
überhaupt völlig irrelevant
ist? Wenn jeder,
der zu Deinem
70. Geburtstag den Griffel
in die Hand nimmt, um etwas
zu schreiben, sich wie eine
blinde, taube
und stumme Ameise fühlt, die zum hell scheinenden Mond aufblickt? Es ist
wahrscheinlich leichter, über Gott zu
schreiben als über Dich, Bob. Ist es das, was Du gewollt
hast? Als junger Mann bist Du ins Künstlerviertel Greenwich
Village nach New York gekommen.
Hast Deine Umgebung in Dich aufgesogen wie ein Schwamm.
Die Musik und Songs Deiner väterlichen Freunde klangen gegen Deinen
Sound plötzlich flach und lahm. Du hast ihre
Platten gehört und geklaut - und ein paar Wochen später
hast Du sie in der Disziplin "eigensinniger Folksänger"
von der Bühne gefegt.
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Sie haben Dich
in ihren Wohnungen schlafen lassen, sie haben Dich
auf ihren Bühnen singen lassen, sie haben Dich
ihren schönen Frauen vorgestellt, sie haben Dir ihre Gitarren geliehen. Und zum Dank hast Du ihnen ihre eigene
Mittelmäßigkeit vor Augen geführt und bist dann alleine
weitergezogen. Wo
andere schon Probleme hatten, drei anständige Strophen für ihre
Songs zu schreiben, hast Du 20 Strophen für einen einzigen
Song geschrieben. Wie in Stein gemeißelt.
Als ob Du
sie einfach nur aus dem
blauen Himmel abgeschrieben hättest. Als ob sie
Dir von einer geheimnisvollen
Stimme ins Ohr diktiert worden wären, die nur Du hören kannst.
Ein
junger Mann, gerade 20 Jahre alt. Und seine Auftritte
und Lieder wirken so unglaublich
sicher. Jedes Wort ist an
der richtigen Stelle. Jeder Ton. Nichts kann verändert werden, ohne dass
alles schwächer wird. Dazu ein fast unbewegtes
Gesicht. Fast keine Mimik. Keine Floskeln. Keine Spur von Freundlichkeit. Drei Akkorde, eine
gnadenlose Mundharmonika
und diese merkwürdige, verstellte Stimme, mit der Du
meilenweit an den richtigen Tönen vorbei singst. Im Tonstudio gibst
Du vom ersten
Tag an den Ton an. Bei den Aufnahmen für Deine
erste Platte bittet Dich der Produzent,
ein Lied noch einmal zu singen.
Doch das lehnst Du ab.
Einmal ist
genug. Gespielt ist gespielt.
Gesungen ist
gesungen. Und für
immer gültig. Woher nimmst Du eigentlich
Dein unverschämtes Selbstvertrauen?
Und als
dann schließlich alle an Deinen Lippen hingen, all die Leute auf den Folkfestivals, all
die sanften Weltverbesserer,
Friedensbewegten, Traditionalisten,
da hast Du ihnen mit der flachen
Hand ins Gesicht geschlagen.
Eine Elektrogitarre hast Du Dir umgehängt, einen engen Anzug
hast Du Dir angezogen und
Rock 'n' Roll gespielt. Laut. Kalt. Zynisch. Statt
von Krieg und Frieden hast Du plötzlich vom
komischen Hut einer Freundin gesungen. Immer rätselhafter wurden Deine Texte. Sie haben Dich ausgebuht.
Sie waren enttäuscht, traurig, sie haben getobt
und wollten ihren alten Bob zurück. Noch heute fragen
sie Deine alte Folk-Freundin Joan Baez bei Auftritten, ob Du gleich auf die Bühne kommst. Doch der alte Bob Dylan war gestorben.
Den gab es nicht
mehr.
Zwischendurch hast Du in einem Hotel in New York die Beatles getroffen,
als sie
das erste Mal in den USA waren. In diesem ganzen Wahnsinn hast Du den aufgedrehten Burschen aus Liverpool beigebracht, wie man diese exotischen Kräuter raucht und sich entspannt. Und dass man auch über
andere Dinge singen kann als über seine letzte Freundin und all die hübschen Mädchen da draußen. Diese Begegnung hat den Sound dieser besonderen Band nachhaltig beeinflusst. Und dann hast Du plötzlich ganz
aufgehört. Nach drei gewaltigen,
monströsen, ewig gültigen Platten in nur 14 Monaten bist Du mit
Deinem Motorrad verunglückt. Ernsthaft. Und dann war plötzlich Schluss. Ein ruhiges Leben
mit Frau und Kindern war Dir plötzlich wichtiger als das
ganze verrückte Popgeschäft. Den Sommer der Liebe und die Jahre danach hast Du ganz in Ruhe
auf dem Land verlebt. Verschlafen.
Und als schon
niemand mehr damit gerechnet hat, bist Du doch
noch zurückgekommen. Aber natürlich nicht mit Deinem eigenen
Revival. Sondern mit
einer Country-Platte! Kein
Rock. Kein Roll. Kein Soul.
Kein Folk. Ausgerechnet Countrymusik.
Dann hast Du
ganz schnell zu alter Form zurückgefunden und bist nach all den Jahren mit einer
Art Zirkus auf ganz große Tournee gegangen.
Als ob nichts
gewesen wäre. Andere Helden der Sixties haben es nicht
in die 70er-Jahre geschafft. Für Dich war das ein
Kinderspiel. Quasi nebenbei
sind Platten
erschienen, die es mit den Großwerken aus den 60er-Jahren aufnehmen können. Und als alles wieder funktionierte,
als alle wieder an Bob Dylan glaubten, machst Du wieder eine
Kehrtwende. Eine Kehrtwende - zu Gott! Es folgen
zwei Platten mit christlicher Gospelmusik. Der Mann, der
sich all die Jahre scheinbar nur auf sich selbst verlassen
hat, der es kategorisch abgelehnt hat, an Obrigkeiten, Mächtige oder wen
auch immer zu glauben, singt
davon, dass man jemandem dienen sollte - am besten Jesus Christus. Seit dieser Zeit bist Du auf Deiner nie
endenden Welttournee, auf der Du Dich
und Deine Lieder am liebsten
jeden Abend neu erfinden willst.
Du zerlegst Deine Musik, Deine Texte.
Zerdehnst,
zerknüllst, zerstörst Deine Lieder. Versuchst, Dich selbst zu überraschen. Du machst es uns
nicht leicht.
Wenn wir etwas
von Dir lernen können, Bob,
dann wohl eines: Wir müssen
uns verändern, wenn wir wirklich
leben wollen. Wir müssen uns häuten,
öfter mal in ein neues Leben schlüpfen.
Auch wenn es wehtut.
Wir müssen aus unseren
Fehlern lernen und uns ändern. Auch wenn es unsere
Umgebung überrascht und sie enttäuscht zurückbleibt. Und wenn wir nicht die Kraft und den Mut dazu
haben, dann lassen wir das
einfach von Dir erledigen. Wir hören Deine
Platten, verzweifeln an Deinen unfassbaren Texten, wundern uns über Deine
Wandlungen, hören Deine Bob-Dylan-Stimme, spüren Deinen ewigen
Atem, der Deine Bob-Dylan-Mundharmonika durchströmt und wünschen uns, dass Du
noch ein paar Jahre bei
uns bleibst. Tu es für
uns, Bob!