WikiLeaks, oder die Mär von der unparteiischen
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MICHAEL LACZYNSKI
Julian Assanges „Nachrichtendienst für das Volk“ sollte eine Fackel der Demokratie sein. Stattdessen wurde er zur digitalen Keule der Amerika-Hasser.
Die Idee war bestechend einfach und die Anfänge vielversprechend: Ein „Nachrichtendienst für das Volk“ schwebte jenen enthusiastischen Weltverbesserern vor, die im Jahr 2006 einen digitalen Postschalter im World Wide Web geöffnet hatten. Die Internetplattform WikiLeaks war als Anlaufstelle für Informanten rund um den Globus konzipiert, die unter dem Schutz der Anonymität vermeintliche Missstände in Institutionen, Unternehmen und Regierungen bloßstellen wollten.
WikiLeaks-Mitbegründer Julian Assange, der in der verschworenen Onlinegemeinde die Rolle des charismatischen Wanderpredigers übernahm, sprach fortan von den Segnungen der totalen Transparenz und der demokratisierenden Wirkung der puren, ungefilterten Information. Nicht von ungefähr lautete das Motto von WikiLeaks „We open Governments“ – staatliche Heimlichtuerei sollte auf die Müllhalde der Geschichte verfrachtet werden.
Dieser Idealismus kam anfangs gut an. WikiLeaks publizierte Dokumente aus dem innersten Zirkel der Scientology-Sekte, brachte Beweise für Korruption in Kenia und vertrauliche Dokumente einer Schweizer Bank. Die Internetaktivisten hatten mit Assange ihren neuen Propheten, Medientheoretiker fanden reichlich Stoff für wissenschaftliche Abhandlungen, Feuilletonisten nickten zustimmend – und dabei wäre es vermutlich auch geblieben, hätte WikiLeaks 2010 nicht jenes Video publiziert, das sich unter dem Titel „Collateral Murder“ tief in die kollektive Erinnerung eingegraben hat, und das den Einsatz eines US-Kampfhubschraubers gegen unbewaffnete Zivilisten im Irak zeigt.
Dass diese Veröffentlichung eine heftige Reaktion der US-Regierung auslösen würde, war vorauszusehen – und wohl Teil des Kalküls. Die USA sollten sich als das zu erkennen geben, was sie nach Assanges Weltsicht schon immer waren: ein brutaler Hegemon, der für alle Übel dieses Planeten verantwortlich ist. Washington spielte mit und erklärte WikiLeaks prompt zur Gefahr für die nationale Sicherheit. Man könnte an dieser Stelle darüber streiten, ob die Reaktion der USA verhältnismäßig war – ob es nicht besser gewesen wäre, den im Video erhobenen Vorwürfen sachlich nachzugehen, statt dem naiven Idealisten Bradley Manning, der WikiLeaks den Film zugespielt hat, einen Prozess wegen Landesverrats zu machen. Faktum ist jedenfalls, dass WikiLeaks und Assange dadurch einen massiven Popularitätsschub erhielten.
Doch die Causa „Collateral Murder“ hatte einen weiteren Nebeneffekt: Der Nimbus der Unparteilichkeit, der WikiLeaks bis dahin umgeben hatte, war dahin. Was folgte, war ein regelrechter Informationskrieg gegen die Vereinigten Staaten: Dokumente aus Afghanistan, Militärakten über den Irak-Krieg, diplomatische Depeschen, interne Mails eines amerikanischen Sicherheitsunternehmens – alles, was Assange in die Finger bekam und den USA schaden konnte, wurde auf den Markt geworfen. Dass im Zuge dieser Kampagne die Identität amerikanischer Informanten preisgegeben wurde, nahm man als Kollateralschaden in Kauf. WikiLeaks wollte eine Fackel der aufgeklärten Demokratie sein – stattdessen wurde es zur digitalen Keule der Amerika-Hasser.
Und angesichts des Gebarens von Julian Assange muss man zum Schluss kommen, dass diese Entwicklung kein Zufall, sondern Absicht war. Wer wie der WikiLeaks-Chef im Auftrag von Wladimir Putin schmeichlerische TV-Interviews mit Champions der Demokratie wie dem Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah führt, kann die USA wohl nur als „großen Satan“ sehen. Dass Assange unter dem Schutz diplomatischer Immunität nach Ecuador flüchtet, ist da nur konsequent. Nun kann er mit Staatschef Rafael Correa, der unliebsame Journalisten in Grund und Boden klagt, über die Vorzüge der freien Meinungsäußerung debattieren.
Was hier wieder einmal in aller Deutlichkeit vorgeführt wurde, ist die Tatsache, dass Informationen auch als Waffen missbraucht werden können. Und dass Aufdecker von Missständen sich genau überlegen müssen, wohin sie mit ihren Informationen gehen. Ihr Vertrauen in WikiLeaks war jedenfalls nicht gerechtfertigt.