Merkel ignoriert den Albtraum
30.06.2013
20:33
von
Stephan-Andreas Casdorff
In
der Bundesrepublik werden jeden Monat
eine halbe Milliarde Kommunikationsdaten gestohlen, schreibt der „Spiegel“. Doch die Regierung hält sich bis auf wenige
Ausnahmen mit ihrer Kritik vornehm
zurück. Was fürchtet Angela
Merkel?
Will
sich denn keiner mal so richtig aufregen? Und keiner mehr rigoros eintreten
für das, was man zivilisatorische,
demokratische Errungenschaften
nennt? Wenigstens so wie die Bundesjustizministerin? Sie hat schon früh
die NSA-Affäre einen „Albtraum“ genannt und nur hinzugesetzt: wenn es denn
stimmt. Nun, alles stimmt und noch viel mehr, die Affäre wird ein
Skandal, der sich noch dazu
immer weiter ausbreitet. Und unsere Bundeskanzlerin belässt es bei höflichen
Fragen?
Dabei wird es doch allerhöchste
Zeit für ein paar wütende
Anrufe in Washington, die der
Riesengeheimdienst der USA
– 35 000 Mitarbeiter, so heißt
es – auch gerne mitschneiden kann.
Denn das sind Fakten: Alles wurde
ausgeforscht, und alle,
China, die EU, Milliarden überwachte
Kommunikationsvorgänge sind
es, und ganz vorne dran ist
Deutschland. Von wegen Partner, Freunde:
Hier geht es nur um Interessen,
aber nicht die deutschen. Also: Wann kommt Klartext? Und wer tut etwas dagegen?
Die
NSA-Spionage ist Stasi im Quadrat
Entweder versteht es die deutsche politische Klasse nicht, oder
sie will lieber nicht verstehen, um was es geht. Aber
darf das wirklich wahr sein? Hier
geht es um das Treiben einer Stasi im Quadrat, eines
Big Brother, wie ihn die
Welt noch nicht gesehen hat. Hollywoodproduktionen
sind nichts im Vergleich dazu.
Ein Staat, der ohne deren
Wissen Abermillionen Bürger ausspäht, ausforscht, abhört, der alle politischen
und anderen Institutionen der EU verwanzt, um alles zu wissen
– der kann sich eigentlich nicht Demokratie nennen. Das sollte gerade in Deutschland klar sein.
Nun
sage keiner, die USA wollten
doch nur Terror verhindern, sie hätten auch Terrortote
verhindert. Das sagte gerade ihr Präsident,
nach seinem Treffen mit der
Kanzlerin. Erstens sind das Behauptungen, deren Richtigkeit bisher keiner überprüfen
konnte; zweitens ist das Ausforschungsprogramm längst weit darüber
hinausgewachsen. Es wuchert,
monströs. Und sollte unsere Big Brothers im Blick auf Deutschland Misstrauen wegen der Begleitumstände
von 9/11 getrieben haben – es muss immer noch
extrem sein. So behandelte man früher am ehesten Feinde, früher, im Kalten
Krieg. Allerdings waren damals die Möglichkeiten nicht derart riesengroß
wie jetzt. Das kann man dann tatsächlich
Neuland nennen: die USA,
Land der Freiheit und der Freien, gefangen
in einem hermetischen Freiheitsbegriff.
Die
Geheimdienste hören jeden Monat eine
halbe Milliarde Kommunikationsdaten ab
In
der Bundesrepublik werden jeden Monat
eine halbe Milliarde Kommunikationsdaten gestohlen, schreibt der „Spiegel“. Das ist die
Dimension des Geschehens, und sie
ist schon beinahe unfassbar: Als gälte im
Wirkungsbereich unserer ja ursprünglich von den USA inspirierten Demokratie nicht mehr der
Artikel zehn des Grundgesetzes, der das Post-,
Brief- und Fernmeldegeheimnis garantiert
und jede Ausnahme an eine richterliche Verfügung bindet. Wer sich darüber
kalt hinwegsetzt, widerrechtlich, wie nennt man den? Oder so: Ist das eine lupenreine Demokratie? Nehmen wir diesen Fall. Streichen wir in jedem zu kritisierenden
Punkt USA und fügen stattdessen Russland ein – was würde jetzt nicht schon
alles gesagt worden sein. Zu
Recht!
Vielleicht aber bedeutet das Schweigen deutscher Politiker, dass sie sich
fürchten vor dem, was da noch
kommen kann. Aus
Deutschland. Denn auch hier gibt es
Geheimdienste, und mindestens
einer, der BND, wird bestimmt
mit der NSA
zusammengearbeitet haben.
Um nicht naiv zu wirken: Solange
es Geheimdienste gibt, arbeiten sie so, im Geheimen,
am Rande. Aber so? Es fehlt an ausreichender Kontrolle, an politischer zumal. Das Kontrollgremium des Bundestages jedenfalls will von alledem nichts gewusst haben. Was schlecht, aber auch wiederum besser
wäre; denn umgekehrt wäre es noch erschreckender:
wenn Abgeordnete das tolerierten.
Gottlob schlagen jetzt ein paar
Demokraten Alarm. Demokraten
in Amerika. In Deutschland ist
der Albtraum noch nicht bei
allen angekommen. Der Übergriff auf souveräne, demokratische Staaten der EU muss ein Thema werden,
und zwar ein großes.