Rückzug aus Einsicht
Barack
Obama gibt auf: Eine allgemeine Krankenversicherung wird auch er
nicht einführen.
Von
Christoph von Marschall
18.8.2009
Allmählich machen die USA selbst Barack Obama, diesen Ausnahmepolitiker, zu einem echten Amerikaner.
Auch er wird
keine Mehrheit für die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung bekommen, obwohl er es
klüger anstellt als die Clintons vor 15 Jahren.
Zu den fundamentalen ideologischen Unterschieden zwischen der alten und der Neuen Welt gehört die Frage, welche Freiheiten
und Risiken eine Gesellschaft dem Individuum überlässt und wann die Solidargemeinschaft greifen soll. Zudem
haben Amerikaner und Europäer fast gegensätzliche Bilder von der Aufgabe des Staats. Amerikaner halten ihn tendenziell für ein Übel. Er ist leider nötig für
die Verteidigung ihrer Lebensart gegen Feinde sowie für
ein paar organisatorische Aufgaben, ansonsten aber soll er sich
aus ihrem Leben heraushalten. Europäer gestehen dem Staat erzieherische
Aufgaben zu, von den Sozialversicherungen bis
zur Rettung von Umwelt und Klima. Da stellen sich
bei einer Mehrheit der Amerikaner die Nackenhaare auf.
Argumente und Erfahrungsbeispiele zählen
in der Auseinandersetzung wenig. Auf manchen Feldern ist
Amerikas Misstrauen gegen den Staat erfrischend, nicht aber in der Gesundheitspolitik.
Die Absicherung des Durchschnittsbürgers
in den USA gegen Krankheit
und ihre Folgen ist schlechter
als in Deutschland, und doch
muss er deutlich mehr dafür bezahlen.
Sehr viele Amerikaner sehen in der Debatte über die Gesundheitsreform aber eine Freiheitsfrage: Der Staat habe ihnen
nicht vorzuschreiben, ob sie sich versichern
sollen und wie. Für die meisten Europäer ist
das schwer nachzuvollziehen.
Nun lenkt Obama ein. Er verzichtet
auf eine staatlich getragene Krankenversicherung für die Millionen Unversicherten, denen die Prämien zu hoch sind oder die von privaten Versicherern wegen Gesundheitsproblemen abgelehnt werden. Zuvor hatte
der Präsident bereits ein anderes Wahlversprechen, die Versicherungspflicht für alle, stillschweigend aufgegeben.
Der Widerstand
mischt sich aus Bürgern, die ehrlich empört
sind über eine – wie sie
es sehen – Gängelung durch den Staat, und Wirtschaftsgruppen,
die am bestehenden System gut verdienen.
Sie missbrauchen den Gründungsmythos für ihre Interessen: Die USA wurden als „Land der Freien“ gegen
Monarchendiktatur in Europa
geschaffen. Gegner der
Reform gehen so weit, sich auf Thomas Jefferson zu berufen: Der Baum der Freiheit müsse von Zeit zu Zeit mit Tyrannenblut gedüngt werden.
Obama erkennt, was er seiner Nation zumuten kann und was nicht. Es wird wohl eine Gesundheitsreform geben. Aber das, was am Ende mehrheitsfähig
ist, wird nur noch wenig
mit dem zu
tun haben, was er im Wahlkampf
versprochen hat. Längst geht es nicht
mehr um die Unversicherten.
Die stellen nur 15 Prozent der Bürger und nur zehn Prozent
der Wähler. Vorrang hat jetzt die Wahlfreiheit der Versicherten. Zur Freiheit, wie sie
die Amerikaner verstehen, gehört eben auch
die Freiheit, zu viel für eine
im Vergleich unterlegene Gesundheitsvorsorge zu zahlen.
(Erschienen
im gedruckten Tagesspiegel vom 18.08.2009)