NSA-Überwachung: Merkels Handy ist nicht
das Problem
Ein Kommentar von
Christian Stöcker
Neue
Enthüllungen belegen klar, dass NSA und Co. deutsche Politiker und Beamte in großem Stil abgehört
haben. Das ist empörend - aber es verdeckt
den eigentlichen Skandal.
Die
Zeit des Leugnens und Herausredens ist
endgültig vorbei. Die Enthüllungsplattform WikiLeaks hat am Mittwoch
Dokumente veröffentlicht,
die klar belegen, dass der US-Geheimdienst
NSA und seine Verbündeten vom
britischen GCHQ deutsche Spitzenpolitiker und Beamte abgehört haben, und zwar zum Teil
seit Jahrzehnten. In den vergangenen Jahren ist immer
wieder versucht worden, Zweifel zu säen am Bericht
des SPIEGEL, dass die NSA Bundeskanzlerin
Angela Merkel abgehört hat. Merkel kann jetzt selbst
überprüfen, ob es stimmt, dass Spione
ihre Gespräche belauschten - denn an die Unterhaltung mit ihrer persönlichen
Assistentin vom 11. Oktober 2011, deren Zusammenfassung man nun bei WikiLeaks nachlesen kann, erinnert sie sich vermutlich.
Das
sollte auch den Generalbundesanwalt freuen, der das Verfahren wegen der abgehörten
Kanzlerin kürzlich eingestellt hatte. Schließlich muss er Merkel nur fragen, ob das Gespräch so stattgefunden hat, um
endlich einen klaren Beweis für
die Abhöraktion zu haben.
Spätestens jetzt ist klar, dass
Briten und Amerikaner europäische Politiker und Unternehmen gründlich ausforschen, und es bleibt weiterhin zu hoffen, dass
das endlich politische Konsequenzen haben wird.
Doch ungleich skandalöser ist
und bleibt etwas anderes.
Die
Enthüllungsseite "The Intercept" hat, hierzulande überlagert von den neuen WikiLeaks-Veröffentlichungen,
gestern einen gewaltigen Fundus aus neuen Dokumenten
über das wohl wichtigste Werkzeug der Überwacher aus dem Westen
veröffentlicht, ein System,
dessen Existenz dank Edward
Snowden schon seit knapp zwei Jahren
bekannt ist. XKeyscore ist
gewissermaßen die komfortable
Benutzeroberfläche der Überwachungsmaschinerie der NSA.
Spione mit Zugriff auf dieses System sind in
der Lage, etwa auf Basis einer E-Mail-Adresse nahezu beliebige Informationen über beliebige Internetnutzer herauszufinden: Welche Fotos haben
sie irgendwo in der Cloud abgelegt? Mit wem chatten sie
und worüber? Welche Pornovorlieben
haben sie? Ganz egal, ob es
arabische Terroristen,
deutsche Politiker oder irgendwelche unbescholtenen Bürger sind, für die sich
der jeweilige Analyst zufällig interessiert.
XKeyscore ist das
Super-Google der Five-Eyes-Geheimdienste,
das allsehende Internet-Auge,
das vermutlich mächtigste Überwachungswerkzeug der Menschheitsgeschichte.
Dass die NSA und ihre
Verbündeten ein solches Werkzeug überhaupt nutzen können, liegt daran,
dass sie das Netz weltweit unterwandert
haben. Glasfaserkabel sind angezapft,
schwarze, versteckte Server
und Router zweigen Traffic ab
und leiten ihn um, speichern Metadaten, aber auch Fotos,
Videos, E-Mails und so weiter. Flächendeckend. Nur für den Fall,
dass sich in Fort Meade oder einem anderen
Stützpunkt mal jemand dafür interessieren sollte.
Den neuen Dokumenten zufolge müssen Analysten keinerlei Hürden nehmen, wenn sie
das System zum Ausforschen beliebiger Menschen nutzen wollen. Es gibt zwar nachgelagerte "Überprüfungen",
aber die werden Edward
Snowden zufolge meist von
"Freunden der Analysten" durchgeführt.
"Die arbeiten im gleichen Büro, das sind keine Vollzeitkontrolleure,
sondern Leute, die auch andere Aufgaben
haben."
Mit anderen Worten: Es gibt in Fort Meade und
andernorts Menschen, die jederzeit und ohne ernstzunehmende - geschweige denn gerichtliche - Aufsicht einen Blick in privateste Informationen über nahezu jeden Internetnutzer
abrufen können, auf Knopfdruck. Nicht nur über
Angela Merkel.
Da liegt das
Problem, und daran hat sich
zwei Jahre nach Snowdens erstem
Auftritt rein gar nichts geändert.
E-Mail:
Christian_Stoecker@spiegel.de
https://twitter.com/ChrisStoecker