S.P.O.N. - Im Zweifel links: Zehn tote Kinder
von Jakob Augstein
Am Wochenende hat die Nato in Afghanistan wieder Kinder umgebracht. Was für ein Wahnsinn: Das Datum für den Abzug der Isaf-Truppen steht fest - aber bis dahin wird getötet. Ohne Sinn, nur aus Pflichtgefühl. Und die Deutschen machen mit.
Am Samstag in der Provinz Kunar im Nordosten Afghanistans: Amerikanische und afghanische Truppen liefern sich ein Gefecht mit ihren Feinden. Nach mehreren Stunden, so kann man in der "New York Times" lesen, fordern die Amerikaner Luftunterstützung an. Das Haus des gegnerischen Kommandeurs soll zerstört werden. Als alles vorbei ist, sind die Taliban tot. Und nach Angaben der Provinzregierung verlieren an diesem Tag auch zehn Kinder ihr Leben. Fünf Frauen sollen verletzt worden sein. Das ist die Wirklichkeit des Krieges in Afghanistan. Eines Krieges, an dem die Bundeswehr teilnimmt. Und der vollkommen sinnlos ist. Denn Ende 2014 soll ja alles vorüber sein. Die fremden Truppen werden ihre Sachen packen und abziehen. So wie ein Zirkus packt und weiterzieht, wenn das Gastspiel beendet ist. Aber das hier ist kein Spiel. Es ist in Wahrheit Mord. Denn nichts anderes als Mord ist ein sinnloser Krieg.
Im Februar hatte es einen ähnlichen Angriff gegeben. Damals waren fünf Kinder, vier Frauen und ein Mann getötet worden. Der afghanische Präsident Hamid Karzai hatte daraufhin seinen eigenen Sicherheitskräften untersagt, Nato-Luftunterstützung anzufordern. Die Bomben aus der Luft bringen den unterschiedlosen Tod. Die Isaf hatte bereits im vergangenen Jahr verfügt, keine Wohngebäude mehr anzugreifen.
Aber die Amerikaner kümmert das offenbar nicht. Die Isaf-Truppen, darunter auch die Deutschen, betreiben diesen Krieg mit sinnloser Routine. Es geht nicht mehr um ein Ziel, um Sieg oder Niederlage, um irgendeinen Sinn. Es geht nur noch darum, die Zeit bis zum Abzug totzuschlagen. Eines Tages um Mitternacht wird der Kampf einfach zu Ende sein. Das ist surreal. Nur die Toten, die diesem Irrsinn bis dahin noch zum Opfer fallen, die sind echt.
Darum ist dieser Krieg nicht zu gewinnen
Es hat nichts mit naivem Pazifismus zu tun, sich darüber zu empören. Die wenigsten Leute taugen zum Pazifisten. Eine strengere Moral als die des wahren Pazifisten ist kaum vorstellbar. Die meisten Menschen ertragen die völlige Gewaltlosigkeit gar nicht. Sie glauben an die Gewalt und beruhigen ihr schlechtes Gewissen mit Gründen. Je schlimmer die Gewalt, desto besser muss der Grund sein.
Wie gut müssen die Gründe sein, zehn Kinder zu töten? Vielleicht gibt es solche Gründe. Vielleicht gibt es jemanden, der das ermessen mag. Aber hier wissen wir, dass es keine Gründe gibt.
Wer glaubt denn im Ernst, dass es einen Unterschied für die Zukunft Afghanistans macht, ob jetzt noch ein Kommandeur der Taliban mehr oder weniger getötet wird? Die Zielpersonen der Amerikaner hießen in diesem Fall Ali Khan und Gul Raouf. Sie sollen im gebirgigen Nordosten des Landes Anschläge organisiert haben. Nach allem, was man lesen kann, sind diese Männer jetzt tot. Und nun? Wird die Kunar-Region jetzt friedlicher? Es werden andere an die Stelle der Toten treten, so wie es in der Vergangenheit in Afghanistan war. Darum ist dieser Krieg nicht zu gewinnen. Darum hat man ein Datum für den Abzug der westlichen Besatzungstruppen verkündet.
Jeder Tote ist einer zu viel
Alles ist auf den Rückzug ausgerichtet. Die Isaf-Truppen rechnen schon aus, wie sie ihr Zeug nach Hause bekommen. Gar nicht so einfach, bei der schlechten Infrastruktur. Bis Ende 2014 müsste alle sieben Minuten ein Container das Land verlassen, um den Abzug pünktlich hinzubekommen. Die Transitländer Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan verdienen sich eine goldene Nase daran, den Isaf-Truppen den Rückzug zu Land und durch die Luft zu gestatten. Pakistan öffnet und schließt seine Grenzen für das westliche Militärmaterial je nach Lust und Laune - und danach, wie viele Pakistaner gerade dem amerikanischen Drohnenkrieg zum Opfer fielen.
Zur deutschen Teilhabe an diesem Krieg sagte Alt-Kanzler Gerhard Schröder neulich im Gespräch mit dem SPIEGEL: "Die Entscheidung war zum damaligen Zeitpunkt richtig." Doch "ob der ganze Einsatz über mehr als zehn Jahre richtig war, das wird man erst später, vielleicht sogar erst in Jahrzehnten, beurteilen können". Das war seine bisher kritischste Äußerung zum Afghanistan-Krieg. Aber es war nicht genug. Schröder hätte sich und der SPD einen Gefallen getan, wenn er endlich ausgesprochen hätte, was ohnehin jeder weiß: Dieser Krieg ist verloren, er ist sinnlos, und das weiß man schon längst.
Jeder weitere Tag, der dort gekämpft wird, ist einer zu viel. Jeder Tote ist einer zu viel. Und er lastet auf unser aller Gewissen. Wir haben uns zu Komplizen bei einem Verbrechen machen lassen. Die Deutschen sollten sich wieder an den Krieg gewöhnen, hieß es vor ein paar Jahren. Das gehöre zur internationalen Verantwortung eines wirtschaftlich starken und politisch souveränen Staates, hieß es. Wenigstens da kann man sagen: mission accomplished, Auftrag ausgeführt! Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Zehn sinnlos getötete Kinder regen uns nicht mehr auf. Jetzt wissen wir, was damit gemeint ist: internationale Verantwortung. Danke für die Lektion.