Snowden, Manning und Assange sind die neuen Staatsfeinde
Von Christian Bommarius
Die vermeintlichen Verbrechen der so genannten Whistleblower
hat es schon immer gegeben. Neu aber ist die Wut, die ihnen von Seiten der betroffenen Regierungen entgegenschlägt.
Die ehemalige US-Soldatin Chelsea Manning wurde zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, nachdem sie – damals noch als Bradley Manning – die Welt mit Hilfe der Enthüllungsplattform Wikileaks über die Verbrechen US-amerikanischer Streitkräfte in Afghanistan und im Irak unterrichtet hatte. Für Julian Assange, den Gründer der Plattform, der sich seit zwei Jahren in der Londoner Botschaft Ecuadors aus Furcht vor der Auslieferung an die USA versteckt, haben konservative US-Politiker und Journalisten ein ungleich härteres Schicksal vorgesehen. Sie verlangen für ihn die Todesstrafe. „If he ’s found guilty, he should be executed“, schrieb Kathleen McFarland, vormals Beraterin des Pentagon unter den Präsidenten Nixon, Ford und Reagan, heute Analystin des konservativen Senders Fox News, und der Zuspruch war lauter als der Widerspruch.
Dämonisierung im Westen
Bei Edward Snowden, dem bedeutendsten Whistleblower der Geschichte, der nach seinen Enthüllungen über die weltweite Überwachung durch US-amerikanische und britische Geheimdienste ausgerechnet in russisches Asyl flüchten musste, um der Vergeltung der US-Justiz zu entgehen, wird sich wohl erst in einigen Jahren entscheiden, ob er für seine Aufklärung auch mit dem Leben bezahlt – die Freiheit hat er ohnehin schon verloren.
Die Verbrechen, die Manning und Snowden begangen haben, bestanden in nichts anderem als in dem Aussprechen der Wahrheit, das Verbrechen Assanges war, die Wahrheit weltweit zu verbreiten. Die vermeintlichen Verbrechen, die sie begangen haben, sind nicht neu; Whistleblower und ihre Unterstützer hat es schon immer gegeben. Neu aber ist die Wut, die ihnen von Seiten der betroffenen Regierungen entgegenschlägt und deren Versuch, die Whistleblower der Öffentlichkeit als Staatsfeinde vorzustellen, die nicht politisch bekämpft, sondern um jeden Preis strafrechtlich verfolgt werden müssen. Neu ist die Dämonisierung zumindest in den westlichen Demokratien, noch vor einigen Jahrzehnten, selbst in der Zeit des tiefsten Kalten Krieges reagierten sie gelassener. Als Daniel Ellsberg 1971 mit der Veröffentlichung der geheimen Pentagon-Papiere die Irreführung der US-amerikanischen Öffentlichkeit über die Hintergründe des Vietnam-Kriegs durch die Regierung aufdeckte, trug das erstens zur Beendigung des Krieges bei, führte das zweitens zu einem Grundsatzurteil des Supreme Court, das die Veröffentlichung der Papiere erlaubte, und drittens zu einer Anklage Ellsbergs, die aber platzte, nachdem die illegale Überwachung des Whistleblowers durch Geheimdienstmitarbeiter bekannt geworden war.
Kriminalisierte Teilhabe
Mit anderen Worten: Der „Fall Ellsberg“ spielte in einem liberalen Amerika und könnte sich heute kaum wiederholen. Der Prozess gegen einen Whistleblower würde schon deshalb nicht wegen illegaler Überwachungsmethoden scheitern, weil heute kaum noch eine Überwachung durch US-Geheimdienste illegal ist. Und würde ein Richter unter Berufung auf das damalige Grundsatzurteil heute die Veröffentlichung der Dokumente Mannings durch Wikileaks für rechtens erklären, hätte er ähnliche Reaktionen aus der Politik zu erwarten wie seinerzeit Assange.
Was die von den Geheimdiensten erstrebte Totalausforschung aller Kommunikationsteilnehmer für die Substanz des demokratischen Rechtsstaats bedeutet, dürfte selbst der ärgste Tropf begriffen haben: Weil kein Ausgeforschter von der Ausforschung weiß, entfällt die Rechtsweggarantie; weil kein Parlament die Beobachter, also die Nachrichtendienste, beim Beobachten beobachtet, also kontrolliert, drohen die demokratisch legitimierten Institutionen zur Fassade zu werden. Parallel vollzieht sich aber in den Demokratien – allen voran die USA – ein Bewusstseinswandel in der Politik, an dessen Ende der Anspruch der Gesellschaft auf Teilhabe durch Wissen nicht nur negiert werden könnte, sondern kriminalisiert.
Dieses Bewusstsein hat im dänischen Philosophen und Schriftsteller Sören Kierkegaard, den schon die sehr beschränkte Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Schrecken erfüllte, seinen vehementesten Verteidiger gefunden: „Die vollkommene Publizität macht das Regieren zu einer absoluten Unmöglichkeit. Denn alle Regierung beruht auf dem Gedanken, das es ein paar Einzelne gibt, die einsichtiger als die andern sind, und die dadurch umso viel weiter blicken, dass sie steuern können; vollkommene Öffentlichkeit dagegen beruht auf dem Gedanken, dass alle regieren sollen.“ Auf dem Gedanken wiederum, dass alle regieren sollen, beruht die Demokratie.
Nichts anderes als diesen Gedanken verteidigen Chelsea Manning, Julian Assange und Edward Snowden.