Leitartikel zu Guantanamo
Wer ist schon
unschuldig?
Jede Bundesregierung lehnte das Gefangenenlager
im Namen des Völkerrechts kompromisslos ab. Doch keine
von ihnen wollte ehemalige Häftlinge aufnehmen. Sicherheitshalber.
Im Kampf gegen
den Schandfleck der Zivilisation, gegen das Symbol staatlicher Willkür, also gegen das US-Gefangenenlager Guantanamo
lässt sich die Bundesrepublik von niemandem übertreffen. Seit zehn Jahren wogt
der Kampf hin und her, aber auf eines war immer Verlass: Jede Bundesregierung
jeder Couleur lehnte das Lager im Namen des Völkerrechts
kompromisslos ab, empfahl immer mal wieder der US-Regierung,
auf Folter zu verzichten, auch auf die Folter willkürlicher Inhaftierung. Die Bundesrepublik ragte unter allen Kritikern des Lagers als Großkritikerin hervor.
Mag sein, dass
die Kritik anfangs verhalten klang. Als zu Beginn
des Jahres 2002 klar war, dass die Inhaftierung der zeitweise mehr
als 1 000 vermeintlichen Terroristen als unlawful
combatants, also als ungesetzliche
Kämpfer, weder der US-Verfassung noch dem geltenden
Völkerrecht entsprach, beteuerte der damalige
Bundeskanzler Gerhard Schröder
(SPD), er sei überzeugt, dass die US-Regierung Verfassung und Völkerrecht strikt beachten werde.
Vier Jahre später
begab sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf ihren
Antrittsbesuch beim damaligen US-Präsidenten George
W. Bush mit den Worten: „Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und Wege für einen anderen
Umgang mit den Gefangenen gefunden werden.“ Wer
hätte damals gedacht, dass diese
im Geist der Humanität gesprochenen
Worte schon wenige Jahre später
die Sicherheit Deutschlands
fast unerträglich gefährden
würden.
Das geschah, nachdem der amerikanische
Präsident Barack Obama die Schließung
des Lagers und das als neuen Weg im Umgang
mit der Mehrheit
der Gefangenen den Weg in die Freiheit angekündigt hatte. Die darin liegende Gefahr wurde in Deutschland sofort richtig erkannt: Wer garantiert,
dass Menschen, die bei ihrer Inhaftierung
keine Terroristen sind, nach
ihrer Entlassung noch immer keine
Terroristen sind?
Die Uiguren
waren nie unter Terrorverdacht
Es verstand
sich also von selbst, dass der Widerstand
gegen die Aufnahme entlassener Guantanamo-Häftlinge bereits begann, noch ehe Obama eine entsprechende Anfrage an die Bundesregierung gerichtet hatte, und dass er zu
einer von etlichen Medien unterstützten Protestbewegung wurde, nachdem der US-Präsident die Bundesrepublik um
die Unterbringung uigurischer
Häftlinge gebeten hatte. Die Uiguren – Angehörige des im Westen Chinas lebenden muslimischen Turk-Volks – waren nie einer
terroristischen Aktionen verdächtig, in München lebt die größte Uiguren-Minderheit Europas, der Stadtrat erklärte
sich zur Aufnahme von 17 Uiguren bereit, von denen einige seit sieben
Jahren unschuldig in
Guantanamo gesessen hatten.
Doch wer ist schon unschuldig? Und warnte nicht auch China vor der Aufnahme
der als „Terroristen“ verfolgten
Uiguren? Erst im letzten Augenblick
ist es dem
damaligen Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble (CDU) gelungen,
den drohenden Anschlag auf
die Sicherheit der Bundesrepublik abzuwenden. Die Aufnahme der Uiguren,
mahnten deren Anwälte, sei ein
Gebot der Humanität. Dafür fehle es an einer
Rechtsgrundlage, erwiderte Schäuble. Aber die Gefahr war erst abgewendet, als sich schließlich
der Inselstaat Palau bereiterklärte, die 17 Uiguren aufzunehmen. Der Präsident Palaus sprach von einer „humanitären Geste“, von den 200 Millionen
Dollar, die die USA dafür bezahlten, sprach er nicht.
Dreimal hat Deutschland im Kampf gegen Guantanamo verloren. Doch ist ihm zugutezuhalten,
dass es sich im Fall Murat Kurnaz,
eines in Bremen aufgewachsenen
und von 2002 bis 2006 rechtswidrig
in Guantanamo inhaftierten Türken,
erst nach hartnäckigstem Widerstand ergab. Auch gegen
Kurnaz lag nichts vor. Aber, wie
gesagt, wer ist schon
unschuldig? Ist jener staatenlose Palästinenser unschuldig, der nie einer
Straftat verdächtigt, aber seit Januar
2001 in Guantanamo eingesperrt war, oder der Syrer,
von dem zwar die Häftlingsnummer (537) bekannt ist, aber nicht
der Grund, wofür er sie
bekommen und fast neun Jahre lang getragen
hat? Beide
Männer haben keine Verbrechen begangen, aber wer garantiert, dass sie auch
künftig keine begehen? Gleichwohl hat sie Deutschland aufgenommen
und damit zum zweiten und zum dritten Mal vor Guantanamo kapituliert.
Dennoch ist
der Kampf der Bundesrepublik gegen Guantanamo offenkundig eine Erfolgsgeschichte. Weitere Überstellungen unschuldiger Gefangener sind nicht
mehr zu befürchten.
Und der Menschenrechtsbeauftragte
der Bundesregierung hat gestern, zum zehnten
Jahrestag des Schandflecks der Zivilisation, die amerikanische Regierung erneut um seine Beseitigung gebeten.