Die USA verraten ihre Ideale
Holger Schmale
Das Ansehen
der USA hat Schaden
genommen durch die
von Wikileaks gesteuerten Veröffentlichungen
vertraulicher Dokumente.
Das ist wahr.
Es begann im
April mit dem obszönen Video der Hinrichtung unbewaffneter Männer in Bagdad von Bord eines Armee-Hubschraubers, begleitet von dem gelangweilten Kommentar der Besatzung. Es endete vorerst mit den offenherzigen Berichten der US-Botschafter aus aller Welt, deren Vertraulichkeit zu schützen die Regierung nicht in der Lage
war.
Noch viel größeren
Schaden aber nimmt das Ansehen der USA gerade jetzt, da sie versuchen,
Wikileaks und deren Kopf, Julian Assange, mit allen
Mitteln mundtot zu machen - und dessen Festnahme so freudig begrüßen. Die USA verraten einen ihrer Gründungsmythen: die Freiheit der Information. Sie tun das in einem Moment, da sie erstmals seit dem
Kalten Krieg die Herrschaft
über die weltweite
Information zu verlieren drohen. "Der erste
ernsthafte Informationskrieg
hat begonnen", schreibt
der US-Bürgerrechtler
John-Perry Barlow. "Das Schlachtfeld
ist Wikileaks."
Er hat recht. Mit der Doktrin
des "Free Flow of Information" haben die
USA für Jahrzehnte die Informationsflüsse und einen großen Teil ihrer
Inhalte dominiert. Sie besagt, dass jedermann
das Recht hat, überall und ohne Einschränkung Nachrichten zu sammeln, zu
übertragen und zu verbreiten. Das war eine famose Doktrin, solange allein amerikanische Unternehmen die Macht, die Mittel und die Logistik hatten, diese Freiheit zu nutzen. Das hat sich mit dem
Internet schon tendenziell geändert, obwohl Unternehmen wie Apple und
Windows, Google, Facebook und Amazon die US-Herrschaft
selbst im angeblich so demokratischen weltweiten Netz noch fortsetzen. Julian Assange
und Wikileaks aber sind die Ersten, die die Macht des Netzes
gegen die USA einsetzen. Deshalb werden sie so gnadenlos
verfolgt, deshalb verrät ihre Regierung
eine Grundregel der Demokratie.
Es ist
nicht ohne Ironie, dass Hillary Clinton noch Anfang des Jahres auf einem Kongress in Washington die Doktrin
des Free Flow of Information benutzte, um die
Internet-Zensur in China und Ägypten
zu geißeln. Sie zitierte Präsident
Barack Obama, der in China die Notwendigkeit
eines freien Internets so begründet hatte: Es hilft den Bürgern, ihre Regierung zur Verantwortung zu ziehen, gebiert
neue Ideen und fördert Kreativität. Mit ihrem Vorgehen
gegen Wikileaks haben die
USA gegenüber China und anderen
nun jedes Recht verwirkt, sie wegen
der Verfolgung von Internetaktivisten zur Rechenschaft zu ziehen.
Daniel
Ellsberg, der vor Jahrzehnten mit der Veröffentlichung der geheimen "Pentagon
Papers" den Amerikanern die Wahrheit
des Vietnamkriegs offenbarte,
hat die Dimension des Vorgehens gegen
Assange klar erkannt. Er schrieb in einem
offenen Brief an Amazon, das auf Druck
aus Washington Wikileaks die Plattform
entzogen hat: "Ich bin
angewidert von Amazons Feigheit
und Unterwürfigkeit." Er
zeigt, dass nicht die Regierung in
Washington, sondern der kriminalisierte Julian Assange in einer
großen amerikanischen
Tradition steht: des unerschrockenen
Kampfes für die Freiheit der Information.