Der
Exzess des Krieges
Uwe Vorkötter
2010 » 25. Oktober »
Dürfen die das? Ist es zulässig, dass
eine durch nichts und niemanden legitimierte Internet-Organisation namens
Wikileaks Hunderttausende geheimer
Dokumente aus dem Pentagon ins Netz stellt? Dokumente, die irgendjemand gestohlen hat. Dokumente, deren Veröffentlichung der amerikanischen Außenministerin
Hillary Clinton zufolge das Leben
von US-Soldaten, von Verbündeten
und von irakischen Zivilisten
gefährdet. Dokumente, deren Kenntnis den Feinden Amerikas wertvolle Informationen liefert - das sagt jedenfalls der Generalstabschef der US-Army,
Mike Mullen, der es eigentlich wissen muss. Ist also für Julian Assange, den
Wikileaks-Gründer, die sensationelle
Schlagzeile wichtiger als die nationale Sicherheit? Untergräbt die Anarchie des weltweiten Netzes die Autorität einer Weltmacht?
Dass die etwa 400000 Dokumente seit dem vergangenen Wochenende im Netz
zu sehen und zu lesen sind,
bedeutet nicht, dass die Geschichte des Irak-Krieges
jetzt neu geschrieben werden muss. In den Berichten und Protokollen der Soldaten geht
es nicht um die entscheidende politische Lüge des George W. Bush, mit der er diesen
Krieg vor den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit begründete:
Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen, seine atomare,
chemische, biologische Aufrüstung. Längst ist klar, dass
es diese Waffen nicht gab. Bush behauptete ihre Existenz nur als
Vorwand, diesen Krieg zu führen.
Ebenso wenig geht
es in den Pentagon-Dokumenten
um die zentrale politische Fehleinschätzung der damaligen amerikanischen Regierung und ihrer Koalition der Willigen:
Saddam Hussein aus dem Amt zu jagen, bedeute,
dem Irak und der ganzen arabischen
Welt Frieden und Demokratie
zu bringen. Dieser Kreuzzug des christlichen Abendlandes ist gescheitert, der oberste Kreuzritter
ist aus dem
Weißen Haus gejagt worden. Auch dazu gibt
es keine neuen Erkenntnisse.
Trotzdem ist die Veröffentlichung
von großem Wert. Weil sie, wie schon zuvor
im Fall der Afghanistan-Enthüllung, den Alltag des Krieges dokumentiert - genauer: den schmutzigen Alltag eines angeblich
sauberen Krieges. Die Texte sind in der
nüchternen Protokoll-Sprache
der Militärs verfasst, durchsetzt von technokratischen Abkürzungen. Sie handeln von abgeschnittenen Baby-Köpfen, grausamen Foltermethoden, von gezielten Hinrichtungen und irrtümlichen Erschießungen.
Wer je den Worten der Militärstrategen vom chirurgischen Krieg, der seine Waffen minimalinvasiv einsetzt und Zivilisten schont, geglaubt hat, muss nur einmal in die Protokolle hineinlesen. Er wird dann wissen,
dass in diesem Krieg nicht nur Menschen
getötet worden sind, wahrscheinlich 150 000. Sondern dass andere,
wer weiß wie viele, verroht
und seelisch verwahrlost wurden, dass sieben
Jahre lang beinahe täglich der Gewaltexzess über die Menschlichkeit triumphierte, genau so wie noch in jedem
Krieg zuvor.
Die Experten
für Außen- und Sicherheitspolitik werden aus dem Aktenkonvolut
weitere Schlussfolgerungen ziehen: über die Organisation des
terroristischen Widerstands,
über die Rolle der irakischen Führungselite in der Nach-Saddam-Ära, über die Einflüsse aus dem
Iran, aus Syrien und anderen arabischen Ländern, nicht zuletzt über die Bedeutung, die amerikanische Söldnertruppen, die offiziell als private Sicherheitskräfte firmierten, in diesem Krieg gespielt haben.
Viele dieser Details sind für das Weiße
Haus und das Pentagon unangenehm,
manches ist peinlich. Aber nichts spricht dafür, dass dadurch
tatsächlich die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten gefährdet würde, dass das Leben von Soldaten oder Zivilisten
auf dem Spiel steht.
Hillary Clinton und Mike Mullen haben für ihre Anschuldigungen
gegen Wikileaks nicht ein einziges konkretes
Beispiel angeführt, keinen Beleg, kein
Argument geliefert. Sie belassen es bei
der bloßen Behauptung, die Veröffentlichung der Dokumente sei
ein Skandal.
Tatsächlich hat sich Wikileaks nicht des Hochverrats schuldig gemacht, sondern der Demokratie
einen Dienst erwiesen. Deren Stärke liegt nicht
zuletzt darin, dass sie sich
auch mit ihren dunklen Stunden
kritisch auseinandersetzt.
Der Irak-Krieg gehört zu den dunkelsten Stunden der amerikanischen
Demokratie. In China, so wurde
gestern übrigens auch gemeldet, ist die Regierung alarmiert, weil dort eine eigene
Wikileaks-Organisation gegründet werden
könnte. Die Sorge ist begründet. Denn die Autorität der autoritären Regierung hängt davon ab, dass
sie selbst entscheiden kann, was geheim ist und was öffentlich, was die Menschen erfahren und was nur die Funktionäre wissen.
Gerade deshalb gilt: Ja, die dürfen das.
Tatsächlich hat sich Wikileaks nicht des Hochverrats schuldig gemacht, sondern der Demokratie
einen Dienst erwiesen.